2. TEIL:

 

EINE MÖGLICHE TYPOLOGIE

DER PHÄNOMENE SPRACHLICHEN WANDELS

 

 

 

0. Zur Einteilung und Terminologie

Die erste grobe Einteilung sprachlicher Wandelphänomene in Formenwandel und Inhaltswandel entspricht der Zweiteilung des sprachlichen Zeichens in "signifiant" und "signifié" bzw. Ausdruck und Bedeutung. Jede dieser beiden konventionell (nicht logisch) miteinander verbundenen Komponenten kann sich wandeln, ohne daß dabei notwendig ein Wandel seines Komplements stattfinden müsste. Dies ist der Fall beim phonematischen Sprachwandel (Änderung der Form unter Beibehaltung des Inhalts) und beim semantischen Sprachwandel (Änderung des Inhalts unter Beibehaltung der Form). Diese beiden Ebenen sprachlichen Wandels werden herkömmlicherweise in der Etymologie beschrieben, wo es darum geht, bestimmte Formen laut- und bedeutungs-geschichtlich zurückzuverfolgen.

Schwieriger ist die Abgrenzung von Formen- und Inhaltswandel bei Änderungen der grammatischen Muster und bei der Neueinführung bzw. Tilgung von Systemstellen. Reiner Formenwandel betrifft die formalen Repräsentationen des Systems, ohne dessen innere Bezüge zu verändern. Reiner Inhaltswandel betrifft die inneren Bezüge zwischen den Systemstellen, lässt jedoch die äußerliche Form unberührt. Morpho-syntaktischer Wandel dagegen verändert die Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Formen und damit auch zwischen den Inhalten. Lexo-phrasematischer Wandel etabliert neue und löscht überholte Systemstellen (Form und Inhalt). Wir haben es hier also mit Veränderungen zu tun, die sowohl Form- als auch Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens betreffen.

Wir können allerdings annehmen, daß ein Wandel der grammatischen Muster notwendig die Textformen betrifft, nicht notwendig aber die Textinhalte, so daß wir ihn als primär formalen Wandel bezeichnen können. Das Auftauchen und Verschwinden einzelner Textbausteine dagegen ist hauptsächlich durch den Wandel der Textinhalte motiviert und kann primär inhaltlicher Wandel genannt werden.

Wenn wir uns klarmachen, daß letztlich alles Sprechen ein Anfüllen bewährter Formen mit aktuellen Inhalten ist, wird uns die Feststellung nicht verwundern, daß formaler Wandel sich in ungeheuren Zeiträumen und für den einzelnen Sprecher meist unbemerkt vollzieht, während inhaltlicher Wandel spontan auftritt und sich vergleichsweise rasch verbreiten kann.

Die Bezeichnung der verschiedenen Wandeltypen erfolgte nach den sogenannten "emischen" Einheiten, aus denen die Grundeinheit Text sich zusammensetzt. (Siehe Anhang) Dies gilt allerdings nur für die formal faßbaren Textbausteine. Zur Bezeichnung der Verknüpfungsregeln für Satz- bzw. Textteile wurde der herkömmliche Terminus "Syntax" gewählt, womit sowohl textsyntaktische (textematische) als auch satzsyntaktische (syntagmematische) Merkmale gemeint sind.

Ein "Semantem" wurde nicht angenommen, einerseits deshalb, weil die semantische Aufladung sprachlicher Formen stark variiert und sich rasch verändert, andererseits und vor allem auch deshalb, weil sich die sprachliche Darstellung von Semantemen, wenn sie sich ihrerseits sprachlicher Formen bedient, unweigerlich in einen Zirkelschluss mündet, da jede semantische Kategorie wiederum ihre eigene, erklärungsbedürftige Semantik hat.

Rein graphematischer bzw. orthographischer Wandel, also Modifikationen der Normsetzungen (von der die tatsächlichen, individuellen Schreibweisen mehr oder weniger abweichen) im sekundären Abbildungssystem der gesprochenen Sprache, sollen hier nicht bzw. nur insofern erörtert werden, als sie Rückwirkungen auf die gesprochene Sprache haben können. So kommt es beispielsweise gelegentlich zu "falschen" bzw. unüblichen, an der Schreibung orientierten Aussprachen von Fremdwörtern, was als Grenzfall zwischen Lautwandel eines Einzelzeichens und der Etablierung eines neuen Lexems anzusehen ist (z.B. "Worcester" = /wu:sta/ > /wortschesta/). Im Bereich der Syntax kann es zu einer Nachahmung komplizierter schriftsprachlicher Konstruktionen in der mündlichen Rede kommen. Die Schriftnorm ist somit einer der Kontexte, die zum Teil starke Einflüße auf das Sprechen haben; aber sie gehört keineswegs dem Bereich des Sprechens selbst an.

 

 

1. Wandel der Form

Im Gegensatz zum inhaltlichen Wandel, der ein grundlegendes Merkmal allen Sprechens darstellt, ist formaler Wandel ein unzweckmäßiges und daher schwer erklärbares Phänomen.

 

1.1. Phonematischer Wandel

Hierunter fallen alle Veränderungen der Phoneme als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten einer Sprache.

Als Motiv für phonematischen Wandel, der ja vom äußerungspragmatischen Standpunkt her überflüßig ist, kommen eigentlich nur anatomische bzw. sprachökonomische Gründe in Betracht, die Anlaß zu einer Veränderung der Aussprache sein könnten.

Das wirft freilich die Frage auf, warum sich nicht alle Sprachen in die selbe Richtung, hin zu einem Set "maximal einfacher" Lautkombinationen entwickeln, und warum bestimmte Lautveränderungen (z.B. die hochdeutsche Lautverschiebung) nicht einmal die gesamte Sprechgemeinschaft erfassen, kurz: warum es überhaupt in verschiedenen Einzelsprachen und innerhalb der Einzelsprachen in den verschiedenen Dialekten unterschiedliche Phoneminventare gibt.

Wer sich schon einmal erfolgreich darum bemüht hat, eine Fremdsprache oder einen fremden Dialekt seiner Hochsprache einigermaßen "akzentfrei" ("wie ein Eingeborener") zu sprechen, wird bestätigen können, daß das Geheimnis des fremden Zungenschlags in einer bestimmten, von Mundart zu Mundart verschiedenen Grundeinstellung der Sprechwerkzeuge und ihrer Bewegungsabläufe besteht; so ist z.B. das Amerikanische Englisch "kehliger" (wird weiter hinten im Mund artikuliert) als das Britische Englisch, das Bayrische wird im Vergleich zum Sächsischen weiter unten in der Mundhöhle gesprochen, die slavischen Sprachen erfordern weniger Mundöffnung als die romanischen Sprachen usw. Wir können wohl davon ausgehen, daß jede Einzelsprache, jeder Dialekt, ja sogar jeder einzelne Sprecher seinen eigenen Akzent hat, und es ist denkbar, daß diese phonologischen Unterschiede, wiewohl sie oftmals gering sind und sich durch entsprechende Bemühungen verwischen lassen (man denke etwa an die akzentfrei sprechenden Kinder von Einwanderern oder an Imitatoren berühmter Persönlichkeiten), ursprünglich auf genetische Dispositionen zurückgehen, d.h. daß verschiedene Völker, die ja verschiedene körperliche Merkmale aufweisen, auch geringfügig voneinander abweichende Ausprägungen ihrer Sprechwerkzeuge (Zunge, Mundhöhle, Stimmbänder, Lippen usw.) aufweisen. Solche Unterschiede, die grundsätzlich zwischen Menschen bestehen und mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad tendenziell zunehmen, könnten dafür verantwortlich sein, daß verschiedene Sprechgemeinschaften auch verschiedene Lautkombinationen als einfach oder schwierig empfinden. Und da nicht nur durch lexophrasematische Aufstockung ständig neue, schwierige Lautkombinationen entstehen, sondern sich durch genetische Vermischung auch die Dispositionen der Sprechwerkzeuge verändern, ist ein Stillstand der Lautentwicklung, ein phonologischer Idealzustand für keine Sprechgemeinschaft denkbar.

Lautkombinationen, die auszusprechen Mühe bereitet, werden um so wahrscheinlicher in vereinfachte Formen überführt, je häufiger sie vorkommen. Dabei werden zunächst nur einzelne Formen vereinfacht; oft betreffen die phonematischen Umstrukturierungen jedoch alle in Frage kommenden Formen im gesamten Lexikon und gelegentlich sogar den Lautbestand. Solcher Wandel vollzieht sich in relativ langen Zeiträumen von mehreren Generationen. Durch den konservierenden Einfluß einer überregionalen Hoch- und Schriftsprache wird der Lautwandel noch verzögert. Dennoch gibt es auch auf hochsprachlicher Ebene Tendenzen lautlicher Änderung, die sich meistens zuerst unabhängig voneinander in verschiedenen Dialekten ergeben.

 

1.1.1. Gelegentliche Lautveränderungen einzelner Lexeme

Oft ändern einzelne Wörter ihre Lautgestalt, ohne daß dabei ein allgemeines oder spezielles (für ein begrenztes, relativ homogenes Sprechgebiet und innerhalb eines begrenzten Zeitraums gültiges) Lautgesetz erkennbar wäre. Dabei handelt es sich meist um hochfrequente, elementare Wörter, für deren häufigen Gebrauch schon mittelschwere, sonst akzeptable Lautkombinationen ungeeignet sind und daher "abgenutzt" werden. So wird z.B. das Wort "nichts" ziemlich häufig in "nix", was wohl (neben der Häufigkeit) auch mit der Entwicklung von "nicht" zu "nich" (sowie als Rahmenbedingung der spezifisch deutschen Alternanz von "ch" (mit den stellungsbedingten Lautwerten /c/ und /x/) und "k") zusammenhängen dürfte. Jedenfalls hat sich die selbe Lautkombination in vergleichbaren Fällen erhalten ("Gesichtspunkt" wird nicht zu "*Gesixpunkt", "Gewichtszunahme" nicht zu "*Gewixzunahme").

Grundsätzlich vergleichbar mit diesem Typus ist der seltenere Fall, daß bestimmte Wörter einen sonst regelmäßigen Lautwandel nicht mitmachen (Z.B. span "cruz" statt zu erwartendem, regelhaftem (und früher auch belegtem) "*croz"; "espíritu" statt "*espírito").

Die Lautveränderung eines bestimmten Lexems kann auch aus Gründen der Systematisierung erfolgen, wenn nämlich die betreffende Form im Vergleich mit ihrer Wortfamilie abweicht. So sind etwa die früheren Konsonantenoppositionen in den Ablautreihen einiger Verben verschwunden (mhd."slahen - geslagen", "melchen - gemolken", "verliesen - verlorn" > nhd. "schlagen", "melken", "verlieren"); in anderen sind sie erhalten geblieben ("ziehen - gezogen", "gehen - gegangen"; "sie waren - sie sind gewesen").

Im Gegensatz zu solchem echt qualitativem Lautwandel werden oft einfach nur Laute weggelassen. Zum Beispiel werden einzelne Konsonanten ausgespart (mhd."hochvart" > nhd. "Hoffart", "nicht" > ugs. "nich"; russ. "zdrawstwuitje" = /zdrastwuitje/) oder unbetonte Silben "entvokalisiert" (mhd."gelücke" > "Glück", "gerade" > "grade"; aber nicht "*Lück", "*glingen" oder "*graten").

Der unbestimmte Artikel "ein" wird in mündlicher Rede meist zu "n" verkürzt:

mask. fem. neut.

Sg. Nom. n Mann ne Frau n Kind

Dat. nem Mann ner Frau nem Kind

Akk. nen Mann ne Frau n Kind

(Genitivkonstruktionen kommen in mündlicher Sprache kaum vor.)

Manchmal verschwindet auch nur die Vokallänge ("Hochzeit" mit kurzem /o/, obwohl von "hoch" mit /o:/, wie auch bei "Hoffart", s.o.). Dies kann z.B. auch mit Betonungswechsel zusammenhängen (wie bei der Anpassung des Fremdwortes "Salat" /zalá:t/ an deutsche Stammbetonung: thüringisch /zálat/).

Seltener als der Schwund von Phonemen ist die Auffütterung eines Lexems mit zusätzlichen Lauten. Dies kann etwa geschehen, um eine Form hervorzuheben (wie es wohl bei der Entwicklung von "eben" als Interjektion zu "ebent" der Fall sein mag) oder auch, um die Aussprache (z.B. von Fremdwörtern) zu vereinfachen (z.B. "english" > türk. "ingiliz"; lat. anlautendes "s"+Kons. > span. "es"+Kons. wie in "spiritus" > "espíritu"; vgl. auch engl. "stop" > span. "estop").

 

1.1.2. Abkürzungen

Eine Art mutwilligen Lautwandel stellt die Ersetzung längerer Wörter durch Kurzformen dar. Hier gibt es mehrere Typen: einerseits die regelmäßige oder sporadische Weglassung der Endsilben (wie bei "Auto", "Nazi"; "Lok", "Akku", "Hallu" (jugendspr. für "Haluzination"); span. "la moto", "la bici"; z.T. auch mit neuem Endvokal wie in "Depri", "Agro", "Optiks" (jugendspr. für "Depression", "Agression", "optische Täuschungen") oder mit Konsonantenvereinfachung wie bei "Muckis" (für "Muskeln"), "Wessi", "Ossi" (für "West-" uns "Ostdeutscher"), "Zwanni", "Fuffi", "Hunni" (für "20-, 50-, 100-Markschein")); andererseits die Buchstabierung der Lexemanfänge bei zusammengesetzten Formen ("USA", "ABM", "LKW", "PS", "EG"), oft auch nicht als Buchstabenreihe, sondern als Lautkette gesprochen ("Uno", "Unesco", "Nato", "Aids"; span "sida"). Manchmal werden zu diesem Zweck auch mehrere Laute von den Lexemanfängen übernommen ("AStA", "BAFöG"; "Azubi", "Flak", "Krad", "Mofa"; span. "ReNFE"). Oft wird nur ein Teil des Phrasems abgekürzt ("U-Bahn", "O-Saft", "A-Bombe", "U-Boot").

Ein weiteres Abkürzungsverfahren ist die Verschleifung zweier dafür geeigneter Lexeme, wobei der Anfang des einen und die Endung des anderen Lexems eine neue Form ergibt ("Besserwessis" aus "Besserwisser" und "Wessis"; engl. "smog" < "smoke" und "fog"). Bei den Abkürzungen generell und vor allem bei den buchstabierten und verschliffenen Formen gibt es eine deutliche Affinität zur Neubildung von Lexemen (vgl. dazu 2.1.2.). Die ursprüngliche Lautgestalt, die ja meist neben der Kurzform weiterbesteht, ist bei derartig sprunghafter Veränderung oft kaum noch erkennbar. Da allerdings meist keine neue Bedeutung hinzutritt, sondern nur die Bedeutung eines Phrasems in einer lexemähnlichen Form verdichtet wird, ist es wohl vertretbar, bei solchen Kürzeln von einem extremen Sonderfall spontaner Lautabwandlung zu sprechen. Ebenso vertretbar wäre es freilich, solche Abkürzungen dem lexematischen Wandel zuzuordnen.

 

1.1.3. Regelmäßiger Lautwandel

Die regelmäßige Ersetzung bestimmter Laute oder Lautkombinationen aus Gründen der Vereinfachung oder bereits als Folge vorhergehender Lautveränderung hat zuweilen Nachwirkungen im gesamten Sprachsystem - etwa, wenn bedeutungsuntescheidende Einheiten zusammenfallen und deshalb neue Unterscheidungsmerkmale, z.B. lexikalischer Art, erforderlich werden. Oft verändert sich allerdings das gesamte Phoneminventar einer Sprache, so daß ein Zusammenfall benachbarter Phoneme dadurch verhindert wird, daß sich die gesamte Gruppe verschiebt. Solche revolutionären Umstrukturierungen kennzeichnen z.B. den Übergang vom Latein zu den verschiedenen romanischen Sprachen (Kollaps des lateinischen Vokalsystems) oder die Abspaltung des Germanischen aus dem Indoeuropäischen (sog. Germanische Lautverschiebung), die Aussonderung des Hochdeutschen aus den anderen westgermanischen Dialekten (Ahd. Lautverschiebung) oder die Entwicklung vom Mittel- zum Neuenglischen (Great Vowel Shift). Obwohl solche Umbrüche aus linguistischer Sicht deutliche Einschnitte in den Geschichten der jeweiligen Sprachen bilden, dürften sie den damaligen Sprechern kaum bewußt gewesen sein, denn tatsächlich handelt es sich um erklärliche, regelhafte und allmähliche Entwicklungen, die sich kaum zeitlich abgrenzen lassen und plötzliche Brüche nur für den distanzierten Betrachter enthalten.

Lautverschiebungen finden unaufhörlich (und meistens unauffällig) statt. Im Deutschen z.B. können wir feststellen, wie das nachvokalische /-r/ nach und nach verschwindet und durch ein unbetontes /-a/ ersetzt wird. Bei Formen mit unbetontem /er/ betrifft dieser Prozeß auch das vorhergehende unbetonte /e/ (das Schwa, das überhaupt in unbetonter, geschlossener Silbe immer mehr abgeschwächt wird) : "Lehrer" = /lé:ra/, "Bauer" = /báua/, "besser" = /bésa/, "schillern" = /schílan/, "Erlauben" = /aláuben/ usw. Aber auch nach betonten Vokalen wird das /-r/ verstärkt wie /-a/ artikuliert : "der" = /déa/, "Wert" = /wéat/, "Bär" = /bäa/ oder /béa/, "wir" = /wía/, "nur" = /núa/, "arg" = /a:k/, "hörbar" = /höaba:/ usw. Im Verein mit dem stark abgeschwächten Schwa-Laut ergibt es in "fahren" = /fa:n/ (vgl. "Faden" = /fa:dn/). Zwar gibt es noch eine ganze Reihe von Sprechern, die das nachvokalische "-r" sorgfältig als solches aussprechen, und in der Orthographie ist es gleichfalls konserviert; aber dies kann kaum darüber hinwegtäuschen, daß hier ein Lautwandel in vollem Gange ist, in dessen Verlauf das nachvokalische /-r/ zugunsten des unbetonten /-a/ aus gesprochenen Texten immer mehr verschwindet.

Ein anderes Beispiel, diesmal für das bloße Verschwinden einer Lautkombination, stammt aus dem Spanischen; hier wird das in vielen lateinischen und spanischen Wörtern enthaltene "x" inzwischen fast immer wie ein /s/ und nicht mehr als /ks/ gesprochen.

Auch eine bloße Erweiterung des Phoneminventars ist denkbar, wenn nämlich Fremdwörter Laute enthalten, die in der übernehmenden Sprache nicht vorkommen. Solche Erweiterungen sind meist nur sehr kurzfristig und betreffen zudem nur bestimmte Sprecherschichten, die ein fremdes Wort einführen und ausgiebig verwenden; wenn eine Form dann wirklich allgemeine Verbreitung findet, wird sie meistens zumindest den phonologischen (oft auch den prosodischen) Gepflogenheiten angepasst (wie z.B. dt. "Trabbel" und "Joghurt" nicht mehr wie das englische "trouble" oder das türkische "yo^gurt" klingt; vgl. dazu 2.1.2.1.). Eine Ausnahme stellt allerdings die stimmhafte palatale Frikative (im Deutschen wie ihre stimmlose Entsprechung geschrieben : "Dschungel") dar, die mit einer Fülle von französischen und englischen Fremdwörtern ins Deutsche übernommen wurde ("Journalist", "Rage", "Gendarm"; "Gentleman" usw.) und die einerseits für deutsche Zungen nicht schwer auszusprechen ist (in einigen Mundarten, z.B. im Hessischen, kommt der Laut ohnehin vor), andererseits kaum angemessen durch andere Phoneme des Deutschen umschrieben werden kann.

Dem muß allerdings hinzugefügt werden, daß in jüngerer Vergangenheit viele Phoneme, über die das deutsche ursprünglich nicht verfügt, im alltäglichen Sprachgebrauch auftauchen. Dies beschränkt sich allerdings hauptsächlich auf englische und romanische Formen (was mit bildungs- und überhaupt politischen Entwicklungen zusammenhängen dürfte), während z.B. slavische oder türkische Fremdworte und Namen noch meistens verdeutscht ausgesprochen werden (z.B. russ. "Sojus" wie /zó:jus/ statt richtig /sajús/; türk. "Musa Dagh" wie /mú:za dak/ statt richtig /musá da:/).

 

1.2. Morphosyntaktischer Wandel

Morphematischer und syntaktischer Wandel lassen sich zu einer gemeinsamen Kategorie zusammenfassen, da sie sich gegenseitig bedingen; je reichhaltiger die Mittel eines Sprachsystems sind, um Bezüge zwischen den Wörtern zu kennzeichnen, desto freier ist die Satzfolge (wie z.B. in der lateinischen Sprache). Nimmt jedoch die Zahl der grammatischen Markierungen am Wort (gebundene Morpheme) ab, müssen eine starrer werdende Syntax und Wörter mit grammatischen Funktionen (freie Morpheme) die Aufgabe übernehmen, Bezüge zwischen einzelnen Satzteilen zu verdeutlichen. Abnahme des Morpheminventars geht also mit der Herausbildung einer strengeren Syntax bzw. fester Satzmuster einher. In den meisten indoeuropäischen Sprachen ist eine solche Tendenz (hin zum analytischen Sprachbau) zu beobachten.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine These, wonach der synthetisch-flektierende Sprachbau allmählich aus dem agglutinierenden Typus durch Verschmelzung von Wortstämmen und grammatischen Affixen hervorgehe, und daß der analytisch-isolierende Abkömmling einer flektierenden Sprache "eine therapeutische Zwischenstufe" sein dürfte, die später (wenn die grammatischen Textbausteine eine unveränderliche Position im Satzbau zugeteilt bekommen) in einen agglutinierenden Typus übergehen würde, so daß wir einen Kreislauf erhalten :

isolierende Sprache > agglutinierende Sprache

^- flektierende Sprache < /

Diese Vorstellung ist durchaus plausibel; wenn wir davon ausgehen, daß sich grammatische Elemente aus Lexemen entwickeln, müssen wir uns eine ursprüngliche Sprache als isolierend und nur aus Lexemen bestehend vorstellen. Dieses Verfahren ist uns aus Pidginsprachen bzw. aus der Sprechweise von Sprachlernenden bekannt. (Z.B. Sätze wie "Ich nicht wissen wo sein Buch.") Im Laufe der Zeit nehmen einige dieser Lexeme grammatikalische Bedeutung an und unterstützen so die Satzstellung bei der Herstellung der Textbezüge.

Wenn nun dieses Syntaxmodell eingeführt und einigermaßen gefestigt ist und die im Zuge der Grammatikalisierung entstandenen Morpheme im Bewußtsein der Sprecher feste Stellen im Satzgefüge innehaben, so daß sie regelmäßig an bestimmte Lexeme herantreten und sich diesen ggf. lautlich anpassen, ist die Sprache bereits agglutinierend.

Z.B. kann der Übergang von lat."cantare habemus", "cantare habetis" (1.+2.Pl.Ind.Fut.) zu span. "cantaremos" ("cantar"+"hemos"), "cantareis" ("cantar"+"habeis") als ein solcher Vorgang betrachtet werden. Auch die Suffigierung ehemals selbständiger Substantive ist Agglutination. (Z.B. dt. "-heit" wie in "Freiheit" < mhd. "heit"=Art)

Mit der Zeit werden die am häufigsten aufeinandertreffenden grammatischen Anhängsel (Affixe) weiter verkürzt und miteinander zu Merkmalsbündeln (Flexiven) verschliffen, und eine flektierende Sprache entsteht. Dabei könnte z.B. die bei agglutinierenden Sprachen häufig auftretende Vokalharmonie das Entstehen verschiedener Konjugations- und Deklinationsklassen bewirken.

Dies können wir mit einem Beispiel aus der türkischen Sprache illustrieren:

Person
Offizielles Türkisch
Umgangstürkisch
     
Präsens Sg.1.
gel-i-yor-um
geliyom
2.
gel-i-yor-sun
geliyon
3.
gel-i-yor
geliyo
Pl. 1.
gel-i-yor-uz
geliyoz
2.
gel-i-yor-sunuz
geliyonuz
3.
gel-i-yor-lar
geliyolar
Futur Sg. 1.
gel-e-ce^g-im
gelcem
2.
gel-e-cek-sin
gelcen
3.
gel-e-cek
gelcek
Pl. 1.
gel-e-ce^g-iz
gelcez
2.
gel-e-cek-siniz
gelceniz
3.
gel-e-cek-ler
gelcekler

Die einzelnen Suffixe (Tempussuffix und Personensuffix) verschleifen also in der Umgangssprache regelmäßig zu komplexen Endungen, die prinzipiell schon mit Flexionsendungen vergleichbar sind.

Nach geraumer Zeit mag sich der flektierende Sprachtypus, der reichhaltige Möglichkeiten der Wortreihung um den Preis verworrener Beugungsvorschriftens bietet, durch strenger werdende Satzmuster und infolgedessen wegfallender, da unnötig gewordener Flexionsmerkmale zu einer isolierenden Sprache weiterentwickeln, usw.

Eine solche, sich über Jahrhunderte und Jahrtausende hinziehende Entwicklung wäre zwar durchaus einleuchtend, aber sie ist keineswegs zwingend. Wenn es eine Tendenz im oben beschriebenen Sinne gibt, so ist sie eher schwach (was sich an ihrer enormen Langwierigkeit zeigt) und kann durch gegenläufige Tendenzen überlagert werden. Tatsächlich sind ja auch die genannten Grundtypen nur linguistische Idealisierungen, die in unverfälschter Form kaum vorkommen dürften. Jede heutige Sprache besitzt isolierende, agglutinierende und flektierende Eigenschaften (wenn nicht die Hochsprache, so doch zumindest die Umgangssprache), und die jeweilige (subjektive) Einordnung erfolgt lediglich nach den überwiegenden Merkmalen.

 

1.2.1. Syntaktischer Wandel

Die syntaktische Seite des morphosyntaktischen Wandels ist die Entwicklung der Anordnungsverfahren, die hinsichtlich der einzelnen Textteile innerhalb des Textes bestehen. Hier lassen sich zwei Hierarchisierungsverfahren unterscheiden: die lautliche Behandlung (Hervorhebung bzw. Vernachlässigung bestimmter Textteile) und die Reihenfolge.

1.2.1.1. Prosodischer Wandel

Prosodische Merkmale sind jene lautlichen Aspekte des Sprechens, die in schriftlichen Texten normalerweise nicht wiedergegeben werden: Betonungskurven, die wechselnde Geschwindigkeit und Lautstärke, die Länge der Pausen und auch stilistisch verwendete Schwankungen in der Realisation der Phoneme als Allophone. So lassen sich z.B. bestimmte Sprechweisen imitieren, Zitate kennzeichnen, Sarkasmen verdeutlichen, Spannung erzeugen usw. Wir können davon ausgehen, daß jede (Einzel-/Individual-)Sprache ihren eigenen Erzählrhythmus hat und daß Klang und Melodie eines Textes für den Sprecher als Mittel zur Bedeutungskonstitution ebenso geläufig sind, wie sie für den Zuhörer ein gewichtiges Indiz bei der Entschlüsselung dieser Bedeutung darstellen.

Die prosodischen Mittel lassen sich als phonetische Zusatzinformationen verstehen, die vor allem für die Unterscheidung von Satzkern und Peripherie oder zur Identifizierung von Satztypen entscheidend sein können und somit syntaktische Funktion haben. Wie alle konventionellen Kommunikationsformen erfahren sie einen allmählichen Wandel, der mit anderen Entwicklungen im Sprachsystem zusammenhängen dürfte. Es ist z.B. wahrscheinlich, daß mit zunehmender Differenzierung und Komplizierung der sprachlichen Ausdrucksmittel die Bedeutung der körpersprachlichen Mittel abnimmt, die textgliedernde Funktion der Prosodie dagegen immer wichtiger wird. Denkbar ist auch, daß in einer schriftlichen Gesellschaft die prosodischen Mittel allmählich an Bedeutung verlieren und ein Trend zum lautlich gleichförmigen, rhetorisch monotonen Sprechen besteht.

Die Beobachtung prosodischen Wandels ist allerdings ein schwieriges Unterfangen, weil brauchbare Daten nur für die jüngere Vergangenheit (seit der Erfindung mechanischer Tonkonservierung und -wiedergabe) zur Verfügung stehen. In schriftlichen Texten beschränken sich die prosodischen Markierungen in aller Regel auf die Angabe von Grundbetonungstypen durch Satzendzeichen (Frage-, Aussage-, Ausrufungssatz) und die ungefähre Andeutung von Sprechpausen durch Kommata und Gedankenstriche; gelegentlich werden auch besonders zu betonende Textteile durch abweichende Typisierung (Großbuchstaben, Fett- oder Kursivdruck) oder Unterstreichung gekennzeichnet. Gelegentlich kann jedoch ein verändertes prosodisches Verhalten aus anderen Sprechdaten rekonstruiert werden; so etwa der Übergang vom indoeuropäischen freien (musikalischen) Akzent zum dynamischen Akzent der germanischen Sprachen (Stammbetonung), der weitreichende Konsequenzen für die weitere Sprachentwicklung hatte.

1.2.1.2. Wandel der Reihenfolge

Eine Untersuchung von syntaktischen Mustern darf sich nicht auf sogenannte "ganze" Sätze beschränken, sondern muß sowohl größere als auch kleinere Einheiten berücksichtigen. Wir können z.B. davon ausgehen, daß der ökonomische ("maulfaule") Sprecher alle formalen Bestandteile eines Satzes weglassen kann, die für die Konstitution der Bedeutung nicht erforderlich sind. So können z.B. in bestimmten Gesprächssituationen die Kurzformen "n Eis ?" bzw. "n Eis !" angemessen, die entsprechenden Vollformen "Möchtest du ein Eis ?" bzw. "Ich möchte ein Eis!" (o.ä.) dagegen abweichend sein. Ko-Text und Kontext reichen also aus, um sonst (z.B. in geschriebenen Texten) vieldeutigen bzw. bedeutungslosen Lautfolgen spezielle Bedeutungen zu verleihen. Als extremes Beispiel sei der bei geschlossenem Mund hervorgebrachte Nasallaut (meist als "hm" wiedergegeben) genannt, der je nach Situation und Tonfall ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann, z.B. Zustimmung, Ablehnung, Unverständnis, Nachdenklichkeit, Zweifel, Aufforderung usw.

Ebenso müssen wir damit rechnen, daß Texte, obwohl durchaus folgerichtig aufgebaut und verständlich, sich nicht oder nur schwer in einzelne Sätze auflösen lassen. Vor allem in der gesprochenen Sprache begegnen wir solchen Reden "ohne Punkt und Komma", in denen ohne Rücksicht auf die Schulgrammatik Textteile so aneinandergereiht werden, daß es nach normativen Gesichtspunkten "falsch" oder ungrammatisch genannt werden müßte, vom pragmatischen Standpunkt aus gesehen aber durchaus zweckmäßig erscheint.

Trotz dieser Einschränkungen bleibt der "wohlgeformte" Satz (und Text) freilich ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Syntax, denn er bildet (nicht unbedingt statistisch, aber in den Köpfen der Sprecher) die Regel, die von den zahlreichen Ausnahmen bestätigt bzw. modifiziert wird. Diese satzsyntaktische Perspektive muss aber durch textsyntaktische und phrasensyntaktische Überlegungen (z.B. zu den Verfahren der Wortbildung) ergänzt werden.

In der Wortstellung des Deutschen macht sich der Trend zum analytischen Textbau auf verschiedenerlei Weise bemerkbar. Zum einen gibt es offenbar die Tendenz, den finiten und den infiniten Prädikatsteil, die im deutschen Satz oft getrennt und weit auseinander stehen, zueinanderzubringen ("Wir haben uns auf den Plan ... geeinigt" > "Wir haben uns geeinigt auf den Plan ..."). Diese Aufgabe der Satzklammer (die sich ja vor allem bei den verstärkt auftretenden analytischen Formen auftäte; vgl. 1.2.2.) ermöglicht weitere Komplizierung der Nebensatzinhalte, da das "halbe Prädikat" nicht den Satz über erinnert werden muß und der Speicherplatz für weitere Satzteile frei ist. Zu dieser Entwicklung passt z.B. auch die Aufgabe der Verbendstellung beim mündlichen Gebrauch der Konjunktion "weil" ("Ich bleibe daheim, weil ich krank bin" > "Ich bleibe daheim, weil - ich bin krank").

Zum anderen werden die theoretisch bestehenden Möglichkeiten relativ freier Anordnung der Satzteile immer weniger genutzt; Sätze des Typus OVS (erst Objekt, dann Verb, dann Subjekt) kommen kaum vor, der Typus SVO überwiegt. Außerdem wird durch den häufigen Einsatz von verdeutlichenden Beiwörtern die semantische Bedeutung der Satzstellung entlastet : "Ich ging los, ihn zu holen" > "Ich ging los, um ihn zu holen"; "Ich wusch ihn, daß er sauber wurde" > "Ich wusch ihn, so daß (oder "damit") er sauber wurde" usw.

Weiterhin ist das vermehrte Vorkommen einer Verlaufsform in gesprochenen Texten zu verzeichnen, die sich möglicherweise durch englischem Einfluß etabliert, dabei aber durchaus eigenständige Form hat, nämlich: sein+"am/beim"+Infinitiv ("er ist (gerade) am waschen" statt "er wäscht gerade" oder "er ist gerade dabei, zu waschen"; vgl engl."he is washing").

In der Wortbildung fällt auf, daß die nominalen Zusammensetzungen vor allem in schriftlichen Texten immer umfangreicher werden ("Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen-katalog"; "Sprachvereinheitlichungsbemühungen"). Dadurch werden ganze Satzinhalte in einer Form zusammengedrängt, die Sätze dementsprechend vereinfacht und verkürzt. Die dadurch entstehenden Wortungetüme werden zunehmend abgekürzt.

 

1.2.2. Morphematischer Wandel

Die grammatischen Bestandteile einer Sprache bezeichnen wir als Morpheme. Dies können Wörter mit grammatischer Funktion sein, Affixe, Flexive oder auch (wo grammatische Lautfolgen fehlen) sogenannte "Nullmorpheme". So bedient sich z.B. die Wortzusammensetzung im Deutschen oftmals eines Nullmorphems, wo andere Sprache ein freies Morphem verwenden (Vgl. dt. "Rindfleisch" < "Rind" +0+ "Fleisch" mit sp. "carne de vaca", wo das freie Morphem in der Mitte steht, und türk. "si^gir eti", wo an das Wort "et"=Fleisch das Akkusativsuffix "-i" tritt).

Eine klare Abgrenzung zwischen Morphemen und Lexemen ist letztlich nicht möglich, da Morpheme meist auch mehr oder weniger außergrammatische semantische Merkmale besitzen. Wir müssen hier wohl von einem Kontinuum der Morphemizität ausgehen, in dem verschiedenen Wortarten und Wortbestandteilen verschieden starke grammatische Funktionen zugeordnet sind. So sind die Wortwurzeln (Lexeme) in Substantiven, Verben und Adjektiven nicht morphematisch, Präpositionen schwach morphematisch, Affixe stark morphematisch und Flexive rein morphematisch. Zum Teil lassen sich Flexive gar nicht mehr in Phoneme auflösen, sondern bestehen aus reinen Phonemalternanzen (wie z.B. die deutschen Umlautflexive). Versuchen wir also, eine Definition morphematischen Wandels zu geben, ohne das Morphem als solches genau umrissen zu haben :

Wenn

ein Vorgang der Grammatikalisierung stattfindet, also z.B. ein Substantiv zur Präposition, eine Präposition zum Affix, ein Affix zum Flexiv wird, oder ein vorher unbedeutender Lautunterschied durch eine Umstrukturierung des Morphemsystems grammatisch unterscheidende Bedeutung erhält (wie z.B. der Pluralumlaut in Formen wie "Tochter - Töchter"), oder gar ein neues Morphem absichtlich installiert wird;

oder wenn

Morpheme im Zuge der Systematisierung durch andere Morpheme zunehmend ersetzt werden und schließlich verschwinden;

so ist dies morphematischer Wandel.

1.2.2.1. Grammatikalisierung

Im früheren und gegenwärtigen Deutsch können wir u.a. folgende Grammatikalisierungen verfolgen:

die Einführung von obligatorischen Personalpronomen und Artikeln zur Ersetzung der durch Abtönung der Nebentonvokale zusammengefallenen Flexionsendungen: ahd." geb-amés - geb-ant" > nhd. "wir geben - sie geben"; ahd. "taga", "námo" > nhd. "die Tage", "der Name" usw.

die Verschleifung von Verbform (vor allem Hilfsverb) und unbetonten (abgetönten) Personalpronomen in Fragesätzen, besonders deutlich in der 2.Sg.: "hast du" > "haste", "hasse", "hast" (süddt.); "bist du" > "biste", "bisse", "bist"; "willst du" > "willste", "willsse", "willst" usw.

die Verschleifung vieler Dativpräpositionen mit nachstehenden bestimmten Artikeln : "von dem" > "vom", "in dem" > "im", "zu dem" > "zum", "zu der" > "zur", "an dem" > "am"; auch bei Akkusativpräpositionen, allerdings meist nicht schriftsprachlich : "für den" > "fürn", "für das" > "fürs", "in das" > "ins", "an das" > "ans" usw.

die Entstehung von Konjunktionen aus Demonstrativpronomen ("da"; "den" > "denn"), Fragepronomen ("wen" > "wenn"), Substantiven ("Weile" > "weil"), Partizipien ("während") usw.

die Entstehung von Genitivpräpositionen aus ehemaligen Substantiven ("kraft", "angesichts"; bald wohl auch "in Anbetracht")

die Entstehung von Umlautmorphemen durch lautliche Assimilation des Stammvokals an die Flexionsendung (ahd. "gasti" > nhd. "Gäste")

die Einführung und den zunehmenden Einfluß des Plurals auf "-s", z.B. bei Fremdwörtern ("Kommas" statt "Kommata") und bei Abkürzungen : "Autos", "Unis"; "LKWs" (/élkawe:s/) statt "LKW" (/élka:we:/), "KZs" (/ka:tséts/) statt "KZ" (/ka:tsét/) usw.

die Ergänzung oder Ersetzung von formal maskulinen, inhaltlich zweideutigen oder femininen Morphemen: z.B. "man" > "mann/frau"; "-er" (für Personen beiderlei Geschlechts) > "-erin und -er"; "der Mensch" > "das Mensch"; "wer - der" (für weibliche Personen) > "wer - die"; "jemand, niemand" (für weibliche Personen) > "eine, keine" usw.

1.2.2.2. Systematisierung

Hier finden wir unter anderem:

Vereinheitlichung der vorher unterschiedlichen Stammvokale in den Vergangenheitsformen 1./3.Sg. und 2.Sg/1.-3.Pl. starker Verben: mhd. "bieten - bót - buten - geboten" > nhd. "bieten - bot - boten - geboten"

Übertritt starker Verben in die schwache Konjugationsklasse: gären, saugen, glimmen; manchmal auch nur als Teilübertritt (Präteritum nach der schwachen Konjugation, Partizip nach der starken): melken, backen

Ersetzung des synthetischen durch den analytischen Konjunktiv: "hülfe" > "würde helfen" usw.

Ersetzung des synthetischen Präteritums durch das analytische Perfekt: "half" > "hat geholfen" (die unterscheidende Funktion zwischen vollendeter Gegenwart und unvollendeter Vergangenheit geht als Begleiterscheinung verloren)

Ersetzung des Genitivs durch Dativkonstruktionen: "meines Vaters Hut" > "der Hut von meinem Vater" oder "meinem Vater sein Hut"; "wegen/trotz meines Vaters" > "wegen/trotz meinem Vater"

All diese Beobachtungen bestätigen die Behauptung, daß sich die deutsche Sprache auf dem Weg zum analytischen Sprachbau befindet.

 

2. Wandel des Inhalts

 

2.1. Lexophrasematischer Wandel

Lexematischer und phrasematischer Wandel lasen sich zu einer gemeinsamen Kategorie zusammenfassen; nicht, weil sie sich (wie morphematischer und syntaktischer Wandel) gegenseitig bedingen, sondern weil Lexeme und Phraseme nur schwer sinnvoll voneinander abzugrenzen sind.

Das Lexem ist als "kleinste bedeutungstragende Einheit" definiert; das Phrasem ist eine aus mehreren Lexemen zusammengesetzte Sinneinheit. Ein Wort kann also aus nur einem oder aus mehreren Lexemen bestehen, ein Phrasem demnach aus einem Wort oder aus mehreren. In vielen Fällen ist die Entscheidung nur noch etymologisch zu treffen.

Bei "Reiter" z.B. sind die zwei Konstituenten, die Verbwurzel "reit(en)" und die substantivierende Täterendung "-er(in)" noch erkennbar; beim (etymologisch identischen) "Ritter" dagegen nicht mehr. "Heute" besteht etymologisch aus zwei Lexemen, die jedoch mittlerweile zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen sind.

Für unsere Zwecke wird es ausreichen, Lexeme als "nicht zusammengesetzte Wörter" und Phraseme als "zusammengesetzte Wörter und feste Redewendungen" ungefähr zu umschreiben. Phraseme sind also Textteile unbestimmter Größe, die als Stereotypen auftreten (also auch Lieder, Gebete, Formeln oder Fragmente davon). Wichtig ist bloß, daß Lexeme und Phraseme Textbausteine darstellen und sich hinsichtlich sprachlichen Wandels ähnlich verhalten.

Im lexophrasematischen Bestand einer Einzelsprache hinterlassen geschichtliche Ereignisse, Epochen und Umbrüche deutliche Spuren. Neue Gegenstände und Sachverhalte werden auf neue Begriffe gebracht; alte Begriffe, die nicht mehr gebraucht werden, verschwinden aus dem Sprechalltag. So aktualisiert sich der Wortschatz und passt sich den veränderlichen Lebensumständen und Mitteilungsbedürfnissen an, und so finden die verschiedensten Neuerungen aus allen Lebensbereichen ihren Ausdruck im Sprechen der Menschen.

 

2.1.1. Frequenzabnahme und Schwund

Das Verschwinden eines Lexems bzw. Phrasems ist ein langwieriger Prozeß. Streng genommen ist ein Textbaustein erst dann völlig verschwunden, wenn er nirgendwo mehr repräsentiert ist, wenn er nicht mehr im aktuellen Textkosmos enthalten ist; denn nur dann ist auszuschließen, daß er von irgendeinem Liebhaber wiederentdeckt und in neuen Texten eingesetzt wird. Freilich hätten wir in solchen Fällen, in denen sich das einstige Vorhandensein einer Form unserer Kenntnis entzieht, keine Möglichkeit, den Schwund festzustellen.

Normalerweise sprechen wir schon vom "Verschwinden" einer Form, wenn sie in neuen Texten so gut wie nicht mehr verwendet wird. Dieses Kriterium der Frequenz ist freilich sehr diffus und im Einzelfall mangels umfassender statistischer Daten nur intuitiv anzuwenden.

Das Verschwinden einer Form aus der Sprache zeigt oft das Verschwinden ihrer Bedeutung aus dem Denken an. Eine ganze Reihe von Lexemen ist z.B. im Zuge der Christianisierung der deutschen Sprechgemeinschaft verschwunden, weil ihre mit heidnischen Sitten verbundene Bedeutung nicht mehr gebraucht wurde bzw. nicht mehr gebraucht werden sollte (ahd. "harug" = Opferstätte, "gelstar" = Opfer, "zebar" = Opfertier). Andere sind im Zuge sich wandelnder Lebensumstände überflüssig geworden (mhd. "stíge" = Stall für Kleinvieh, "mange" = Steinschleudermaschine", "sprindel", "sprinze", "spríze" = alle: Lanzensplitter).

Viele Formen werden aber auch durch (aus anderen Dialektgebieten stammende oder durch Metaphorisierungen entstandene) Synonyme ersetzt (mhd. "diet" durch "Volk", "barn" durch "Kind"; noch nicht gänzlich abgeschlossen sind die Ersetzungen von "glimmen" durch "glühen", "bersten" durch "platzen", "gleißen" durch "glänzen", "Geiß" durch "Ziege", "Haupt" durch "Kopf").

Da Phraseme meist eine Bedeutung annehmen, die sich nicht mehr ohne weiteres aus den lexikematischen Bedeutungen ihrer Einzelkomponenten ergibt, bleiben viele sonst verschwundene Lexeme als Bestandteile von Zusammensetzungen erhalten. So ist etwa das ahd. "zebar" in "Ungeziefer" erhalten geblieben, ahd. "fró" (= Herr) in "Frondienst", mhd. "kegel" (= unehelicher Sohn) in der Wendung "mit Kind und Kegel", mhd. "leiben" (= schonen) in "er leibt und lebt", und ein veraltetes Wort für Steigbügel erhält sich in dem Ausdruck "aus dem Stegreif".

 

2.1.2. Neuschöpfung und Frequenzzunahme

Neuschöpfungen entstehen spontan und punktuell. Meist bleiben sie Augenblicksbildungen, die nicht oder nur von ihrem Erfinder weiter verwendet werden. Falls sie aber ein häufiges Ausdrucksbedürfnis besser befriedigen als vorhergehende Formen, werden sie von anderen Sprechern übernommen. In dieser Phase sind Textbausteine am anfälligsten für semantischen Wandel, da die Anzahl der bedeutungskonstituierenden bzw. -verdeutlichenden Texte noch verschwindend gering ist. Die Verbreitung kann in relativ kurzen Zeiträumen erfolgen (vor allem, wenn neue Formen in Massenmedien eingesetzt werden) oder sich über lange Zeit hinziehen.

2.1.2.1. Übernahme

Entlehnungen aus anderen Sprachen können aus verschiedenen Gründen erfolgen. Der naheliegendste Anlaß ist freilich, mit der fremden Form auch eine bis dahin fremde Bedeutung zu transportieren ("Kirche" < gr. "kyrikon", "segnen" < lat. "signare"; "Joghurt" < türk. "yo^gurt", "Soja" < japan.(über niederl.); "Glasnost", "Aids" usw.).

Oft werden aber auch Formen aus wohlangesehenen Sprachen übernommen, denen keine neue Bedeutung entspricht; hier kommt als Motiv eigentlich nur der Dünkel der Sprecher in betracht, die mit ihrer Bildung renommieren wollen ("Fenster" < lat. "fenestra" ersetzt vorheriges "Windauge" (vgl. engl. "window"); "Portemonnaie" für älteres "Geldbörse"; "Shopping" für "einkaufen (gehen)" usw.).

Gelegentlich mag es auch die Verlegenheit sein, die dazu führt, daß eine fremde (entlegenere) Vokabel statt eines unangenehm konnotierten Ausdruck gewählt wird ("Penis"; "Fäkalien"; "Holocaust" usw.).

Wenn sich ein Fremdwort in die Sprache einbürgert, wird es in aller Regel den phonematischen Verhältnissen angepasst. (Z.B. "Bon" = frz. /b^o/ > dt. /bong/). Es wird nach einer Weile wie ein heimisches Lexem betrachtet und kann dann auch für Zusammensetzungen herangezogen werden ("floppen" < "Flop" < engl. "flop"; "antörnen" < engl. "turn").

2.1.2.2. Analogiebildung

Gelegentlich wird auch nur eine Bedeutung importiert, die entsprechende Bezeichnung aber mit eigenen sprachlichen Mitteln nachgebildet. Oft bestehen dann Fremdwort und muttersprachliche Übersetzung nebeneinander. Solche Fällen von mehr oder weniger wortwörtlicher Phrasemübersetzung sind zum Beispiel "Hubschrauber" < "Helikopter", "Fernsehen, Fernseher" < "Television", "Televisor", "Wolkenkratzer" < engl. "skyscraper" usw.

2.1.2.3. Freie Begriffsbildung

Hierunter fallen alle Textbausteine, die nicht aus anderen Einzelsprachen übernommen, sondern innersprachlich entstanden sind.

2.1.2.3.1. Entstehung neuer Lexeme

Obwohl es auf der Hand liegt, daß alle Wortwurzeln irgendwann einmal "erfunden" worden sein müssen, ist in historischer Zeit der Wortschatz aller Einzelsprachen bereits so umfangreich, die Möglichkeiten der Umschreibung so vielfältig, daß die allermeisten neuen Wörter entweder Ableitungen oder Analogien darstellen.

Als ein Beispiel für ein "erfundenes" Lexem wollte ich das Verb "latzen" (=zahlen, bezahlen) verwenden, das bisher weder in den Duden noch in jugendsprachliche Wörterbücher Eingang gefunden hat, aber mittlerweile (zumindest im Raum Düsseldorf und unter jüngeren Sprechern) als übliche Form gelten kann (neben älteren kollegialen Bezeichnungen wie "blechen", "berappen" oder der ungefähr gleichwertigen Umschreibung "Kohle abdrücken"). Nach weiteren Recherchen stellte sich diese Form allerdings als ältere Ableitung vom Substantiv "Latz" (in einer heute nicht mehr üblichen Bedeutung) heraus. So sind die folgenden Überlegungen zwar nicht mehr entstehungsgeschichtlich relevant, aber sie können vielleicht erklären, warum gerade diese heute nicht mehr durchsichtige Form sich (wieder ?) durchsetzt.

1.) Das semantische Feld der finanziellen Angelegenheiten ist traditionell (wegen seiner unmittelbaren Bedeutsamkeit für alle Sprecher) durch besondere Kreativität in der Synonymen- und Metaphernbildung ausgezeichnet, was sich auch an der Vielzahl von Bezeichnungen für "Geld" (Moos, Knete, Kies, Pinke-Pinke, Zaster, Moneten, Kohle, Mäuse, Patte usw.) ablesen läßt. Die Motivation zur Einführung neuer affektiver Wörter ist hier also relativ hoch.

2.) Der affektive Gehalt von Wörtern der lautlichen Form /Konsonant+Vokal+"tz"+.../ ist in der deutschen Sprache relativ hoch (vgl. die umgangssprachlichen, z.T. derben Formen "kotzen", "ratzen" (für "schlafen"), "flitzen", "motzen", "rotzen", "Fotze", "Putze" (für "Putzfrau"); dagegen relativ wenige neutrale Formen wie "Katze", "Ritze", "Schlitz", "Schatz" usw.).

3.) Die Wortwurzel "latz-" enthält genau die selben Phoneme wie ihr semantisches Äquivalent "zahl-", allerdings in anderer Reihenfolge und mit anderer Vokallänge (/tsa:l/ <> /lats/).

4.) Der Anklang an das semantisch verwandte "lassen" ("latzen" = "Geld lassen") ist im Infinitiv deutlich hörbar.

Gesicherte Erkenntnisse über die Ursprünge von Wortwurzeln sind mit zwangsläufig lückenhaftem Datenmaterial, und sei es noch so umfangreich, in den allermeisten Fällen nicht zu gewinnen. So sieht sich der Etymologe gezwungen, sein Tun auf eine teilweise Beschreibung phonematischer (bzw. meist primär graphematischer) und semantischer Werdegänge zu beschränken und die "Erfindung" der Lexeme im Dunkel der Vorgeschichte zu belassen.

Eine Ausnahme stellen allerdings die sogenannten Schallwörter dar. Sie entstehen spontan durch Lautnachahmung ("Wau!") oder unartikulierte Affektäußerung ("Uff!"). Einige solcher Augenblicksbildungen, die jeder Sprecher zuweilen hervorbringt, sind bis in die Schriftsprache eingegangen. Ihre Form ist einzelsprachlich durch das Phoneminventar eingeschränkt und erfolgt meist in formaler Analogie zu bereits bestehenden Schallwörtern (die z.T. vielleicht gar nicht als Lautnachahmung entstanden sind, aber in ihrer gegenwärtigen Lautform so empfunden werden). Hier haben wir die Möglichkeit, die allmähliche Ausdifferenzierung einer lautlichen und semantischen Grundform in verschiedene Lexeme nachzuvollziehen. Als Beispiel sollen die im Deutschen zahlreichen Wörter auf "-tsch" nach Konsonant bzw. Konsonantengruppe und Kurzvokal dienen. Man beachte die semantische Ähnlichkeit innerhalb der ersten beiden Wortreihen :

1.) pitsch-/patsch-/klatschnaß, plätschern, Matsch, klätschen (=ankleben), Flatschen (=Haufen), Dünnflitsch (=Durchfall), Apfelkitsche, (Zähne) fletschen, glitschig, rutschen, flutschen, lutschen usw;

2.) klatschen, tatschen, Watsche (=Ohrfeige), quetschen usw.

3.) Kutsche, Pritsche, Putsch; Kitsch (? oder zu 1.?)

In den Formen der ersten Wortreihe wird das Geräusch von flüssigen oder feuchten Materialien nachgeahmt; in der zweiten Wortreihe das Schlagen mit der flachen Hand. Die zugrundeliegenden Geräusche sind zwar verschieden, aber anscheinend ähnlich genug, um die sie bezeichnenden Wörter als Lautmalereien zu erkennen, wie z.B. auch die Nachahmung des Vogellautes "zwitschern". Die erstaunliche semantische Nähe zeigt sich im Vergleich mit der dritten Wortreihe. Hier zeigt sich der Regelfall, daß nämlich ähnlich klingende Wörter semantisch keine oder höchstens zufällige Ähnlichkeit miteinander aufweisen.

Damit ist allerdings die alte These von der Entstehung der Wortwurzeln durch Lautmalerei noch nicht widerlegt; schließlich kann sich eine Lautkette im Laufe der Jahrtausende so gründlich verändern, daß sie mit ihrem Etymon nichts mehr gemein hat (z.B. mhd "gauch", daß durch Lautwandel aus einem alten Schallwort "kuk" (?) hervorgegangen sein soll).

2.1.2.3.2. Etablierung neuer Phraseme

Zusammengesetzte Wörter können nach produktiven Bildungsregeln von anderen Wörtern abgeleitet werden. Im Deutschen lassen sich z.B. mit dem Suffix "-heit" (bzw. "-keit") Substantive bilden ("Einheit"), mit dem Suffix "-lich" (+Umlaut) Attribute ("einheitlich"), mit dem Suffix "-(e)n" und verschiedenen Präfixen Verben ("vereinheit-lichen"), mit dem Suffix "-ung" Substantive aus Verben ("Vereinheitlichung"), und an diese mit dem Bindekonsonant "-s-" weitere Substantive anfügen ("Vereinheitlichungs-streben").

So kann sich um jedes Lexem schnell eine ganze Wortfamilie mit Verben, Substantiven und Attributen gründen.

Phraseme entstehen per definitionem spontan bei jeder Textproduktion, und jedes vergessene Phrasem kann thzeoretisch neu entstehen. Nur einige - meist jene, die von einflußreichen Sprechern zur Bezeichnung eines neuen Gegenstandes oder Sachverhalts ausgegeben wurden - finden weitere Verbreitung (aktuelle Beispiele sind etwa "Ozonloch", "Zeitgeist", "Waldsterben", "globales Dorf" usw.).

 

2.2. Semantischer Wandel

Semantischer Wandel erfolgt streng genommen bei jeder Erstellung eines neuen Textes - da ja alles Sprechen die Anwendung und Anpassung alter Textmittel auf neue Situationen ist - und vor allem bei kreativem und metaphorischem Sprechen. Die offene Menge aller möglichen benennbaren Gegenstände und Sachverhalte ist ja durch das endliche Raster der Begriffe nur recht notdürftig abgedeckt, und viele Elemente dieser Menge liegen vom Bedeutungskern eines Wortes gleich nah bzw. weit entfernt. So sieht sich jeder Sprecher gezwungen, seine Gedanken so gut es geht in die nun einmal vorhandenen Begriffe zu kleiden und dabei gelegentlich zuviel, gelegentlich zuwenig auszudrücken.

Auffällig wird Inhaltswandel allerdings erst dann, wenn sich die Bedeutungskerne - die bei den Teilhabern einer Sprechgemeinschaft um einen bestimmten Mittelwert gestreut sind - spürbar verlagern; wenn sich neuartige Verwendungsweisen allgemein durchsetzen und die Menge der Gegenstände und Sachverhalte, die traditionell mit einem Begriff bezeichnet werden können, in ihrer Zusammensetzung und/oder ihrer Ausdehnung deutlich verändert wird. Bis solche Veränderungen bemerkt werden, vergehen meist Jahrzehnte, denn die vollständige Durchsetzung einer Neuerung erfordert (mindestens) einen Generationenwechsel.

 

2.2.1. Bedeutungserweiterung

Vor allem aus metaphorischen Verwendungsweisen, die (weil ein entsprechendes neues Ausdrucksbedürfnis besteht oder weil sie plastischer sind als alte Bezeichnungen) von vielen Sprechern übernommen werden, erwachsen einem Begriff neue Bedeutungen (Z.B. "Zebrastreifen" = durch Querstriche markierter Fußgängerüberweg). Dabei sind auch Wortartenwechsel möglich (Adverb "daneben" > Adjektiv mit der Bedeutung "dumm, blöd"; Substantiv "Scheiße" > Adverb: "Das ist ja scheiße teuer!") Manchmal geht die Metaphorisierung so weit, daß die Denotate im Bewußtsein der Sprecher keinen Zusammenhang mehr aufweisen (Polyseme wie z.B. "Schloß" oder "Scheide"). Ein unauffälligerer Fall von Metaphorisierung liegt dagegen vor, wenn eine Bezeichnung, die ursprünglich nur einen Aspekt des Bezeichneten betraf, vollkommen auf das Bezeichnete übertragen wird. So ist etwa der "Henker" ursprünglich der "Hänger", der die zum Tode Verurteilten aufhängt. Nach einer Weile wird diese Bezeichnung auf den Beruf des Scharfrichters überhaupt ausgeweitet, unabhängig davon, ob er die Hinrichtungen durch Erhängen oder auf andere Weise durchführt. Auf solche Weise können auch Eigennamen zu Begriffen werden; vgl. z.B. "verballhornen" (abgeleitet von einem anscheinend nicht sehr fähigem Drucker namens Balhorn) für "Wortformen verfälschen"; oder die Ausweitung von Markennamen für die entsprechenden Produkte (auch von anderen Herstellern) schlechthin ("Tesafilm", "Tempotaschentücher", "Cola" usw.).

Metaphern für gleiche oder verwandte Bedeutungen entstammen innerhalb einer Einzelsprache und oft auch sprachübergreifend aus den selben semantischen Gegenden. So bedeuten etwa "erschöpft - alle - am Ende - fertig - geschafft" wörtlich die Beendung (einer Menge oder Arbeit); auf Personen angewandt meinen alle diese Formen das Zuendegehen der Energiereserven. (Vgl. auch "begreifen - kapieren (von lat. "capere" = nehmen) - raffen - auffassen" zur Bezeichnung des Verstehens, oder "Mist - Dreck - Scheiße - Kacke" als Ausdruck des Ärgers bzw. der Enttäuschung)

 

2.2.2. Bedeutungsverengung

Wenn ein Wort mit mehreren Bedeutungen bevorzugt in einer bestimmten Weise verwendet wird, ist es wahrscheinlich, daß seine anderen Inhalte verkümmern und von anderen Formen übernommen werden. Eine solche Entwicklung hat die Form "sehr" durchgemacht, daß in seiner ursprünglichen Bedeutung "schmerzlich" nur noch in Zusammensetzungen wie "(un)versehrt" vorkommt. Das einstige Attribut ist heute nur noch ein reines Verstärkungsadverb. (Weitere Beispiele für Bedeutungsverengungen sind etwa "anrufen", das heute nur noch "mit dem Telephon anrufen" bedeutet, oder "schalten", dessen ursprüngliche Bedeutung "schieben, stoßen" sich auf "einen Maschinenhebel umlegen bzw. verschieben" verengt hat)

Etwas anders liegt der Fall bei dem Wort "Lefze" aus mhd. "lefs" = Lippe (von wo auch nhd. "Lippe" stammt). Hier hat offensichtlich eine Bedeutungsaufspaltung zweier Alternativformen stattgefunden; "Lefze" bezeichnet heute nur noch die Tierlippe, während "Lippe" meist für Menschen vorbehalten bleibt. (Vgl. auch den nachträglich installierten Bedeutungsunterschied in den konkurrierenden Pluralformen "Worte" <> "Wörter")

 

2.2.3. Bedeutungsverschiebung

Die Bedeutungsverschiebung stellt eine Kombination aus Bedeutungserweiterung und -verengung dar; neue Bedeutungsfelder wurden erschlossen, alte gingen dafür verloren. Die Verschiebung kann als bloße Verlagerung stattgefunden haben; in diesen Fällen sind die beiden Mengen der Gegenstände und Sachverhalte, die der alten und der neuen Bedeutung entsprechen, zwar verschieden, aber sie haben eine Schnittmenge, deren Elemente nach wie vor unter den gewandelten Begriff fallen (z.B. "kirre", was früher "gefügig" bedeutete, in der heutigen Redewendung "kirre werden" aber - vielleicht durch die Lautähnlichkeit mit "irre" ? - die Bedeutung "verwirrt, weich (werden)" angenommen hat).

Die Verschiebung kann aber auch vollständig sein; dann gibt es keine Gegenstände und Sachverhalte, die sowohl der alten und der neuen Bedeutung entsprechen (wie bei dem Wort "Kampf", das von lat. "campus" = (Schlacht-)Feld kommt).

Bedeutungsverschiebungen erfolgen oft über ein zusammengesetztes Bindeglied, wie z.B. bei "Tafel" = Tisch (von lat. "tabula"; vgl. engl. "table") über "Schreibtafel" zu "Tafel" = Schreibbord; oder bei ahd. "cuph" = Becher (von spätlat. "cuppa"; vgl. engl. "cup") über mhd. "hirnkopf" zu nhd. "Kopf" = Haupt.

Das Beispiel von "Kopf" zeigt, wie einstige Metaphern, wenn sie von vielen Sprechern übernommen und gebraucht werden, bald die herkömmliche Form mehr und mehr verdrängen und im selben Maße ihren originellen Gehalt verlieren, bis sie schließlich zur konventionellen und neutralen Bezeichnung avancieren und so den um Originalität bemühten Sprecher zwingen, neue Metaphern zu ersinnen.

Bedeutungsverschiebungen betreffen besonders die Wortarten, die sich zu metaphorischen Verwendungen besonders eignen: Substantive, Adjektive, Verben. Sie sind allerdings nicht auf diese Wortarten beschränkt.

Die beiden Fragewörter "warúm" und "wórum" sind etymologisch fast gleichbedeutend (warum < ahd. wá(r) umbe = wo um; worum < wo (he)rum). Beide haben eine Bedeutungsverschiebung erfahren, allerdings in verschiedene Richtungen. Das ältere "warum" hat sich als Frage nach der Ursache eingebürgert ("Warum tust du das ?"), während "worum" neben seiner ersten Bedeutung ("Worum muß ich fahren ?" bzw. auch "Wo muß ich jetzt rum fahren (= lang fahren) ?") auch die Stelle von "um was" einnehmen kann ("Worum geht es ?" = "Um was geht es ?").

Der semantische Unterschied zwischen beiden Formen ist vollkommen, da kein Text konstruierbar ist, in dem beide Formen bei gleicher Textbedeutung stehen könnten (*"Worum tust du das ?" - *"Warum muß ich fahren ?" - *"Warum geht es ?"). Daß aber beide Formen etymologisch einer ähnlichen Wurzel entstammen, zeigt sich, wenn wir den Fragewörtern ihre deiktischen Antworten gegenüberstellen :

Wer ? Der !

Was ? Das !

Wo ? Da !

Warúm ? Dárum !

Wórum (geht's) ? Dárum !

(Aber "Wie ?" - "So !", weil "Die !" schon als feminine Alternativantwort auf "Wer ?" besetzt ist.)

Wenn wir auf die Deiktika allerdings erklärende Relativsätze folgen lassen, wird der semantische Unterschied am Relativpronomen wieder deutlich:

"Warum ?" -"Darum, weil...", aber "Worum geht's ?" -"Darum, ob...".

Wie aus dieser Gegenüberstellung nebenbei auch hervorgeht, hat die Konjunktion "weil" ihre ursprüngliche, temporale Bedeutung (= während, von "(in der) Weile, (als...)"; vgl.1.2.2.1.) verloren und wird heute nur noch als kausale Konjunktion (= denn) verwendet. Auch hier hat also eine vollständige Bedeutungsverschiebung stattgefunden.

 

Zusammenfassung