III. Geschichte des Sprechens

 

1. Die Entstehung der Sprechfähigkeit (Phylogenese)

Wenn wir die Sprech-Denk-Fähigkeit als das hervorragende Merkmal der menschlichen Art annehmen, - und es gibt gute Gründe, dies zu tun - dann verläuft die Geschichte des Sprechens (deren Untersuchungsobjekt der Textkosmos darstellt) parallel zur Geschichte des Menschen (die zusätzlich noch den Kontextkosmos erforscht). Die zuvor aufgeworfene Frage, ob die ersten Menschen sprechen konnten, ließe sich also mit "ja" beantworten, wenn wir einfach als Definition setzen, daß zum Menschsein als notwendige und hinreichende Bedingung das Sprechenkönnen gehört.

Wenn wir weiterhin die verschiedenen religiösen Schöpfungsmythen nicht wörtlich nehmen und uns die Menschwerdung eher im Sinne der Darwin'schen Theorie von der "Entstehung der Arten" vorstellen, können wir Sprachwandel (wie jeden Wandel, der in der Zeit bzw. der Geschichte als Abfolge sich wandelnder Zustände eines Individuums oder einer Art auftritt), als evolutionären Prozeß betrachten und beschreiben, der nach den Prinzipien von Variation und Selektion funktioniert.

Die Entwicklung der Vorformen von Denken und Sprechen kann bereits im Tierreich überall beobachtet werden. Was wir "Denken" nennen, ist ja nichts anderes als eine hochentwickelte Form der bei allen Lebewesen (schon beim Einzeller) angelegten Lernfähigkeit, also dem Vermögen, aus der Erfahrung der Vergangenheit Handlungsstrategien für die Gegenwart abzuleiten. Was wir "Sprechen" nennen, ist ebenfalls nur die Weiterentwicklung einer vormenschlichen Anlage : nämlich das Zusammenleben innerhalb der Art oder Sippe durch konventionelle Verhaltensstrategien zu steuern. Alle Lebensformen, die in zwei Geschlechtern vorkommen und sich zur Fortpflanzung zusammenfinden müssen, bilden solche kommunikativen Verhaltensweisen aus, wobei sich die verschiedenen Arten der unterschiedlichsten Mittel bedienen: Erzeugung elektrischer Spannung, Absonderung von Körpersubstanzen, Gestik, Mimik, Lauterzeugung.

Bei den Säugetieren - und unter diesen besonders bei den Primaten, zu denen der Mensch gehört - sind diese kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten am weitesten fortgebildet. Beim Menschen hat im Zuge seiner Spezialisierung (bzw. Entspezialisierung) eine deutliche Hirnvergrößerung stattgefunden, was als genetisches Indiz einer besonders entwickelten Lernfähigkeit angesehen werden kann. Alle anderen genetischen Besonderheiten, die der Mensch im Vergleich zu seinen nächsten Verwandten aufweist, sind nur als Folgeerscheinungen dieser vorteilhaften Weiterentwicklung und der daraus resultierenden, unangefochtenen Vormachtstellung der Tierart Mensch in seiner Gewichtsklasse zu erklären; hinsichtlich der Überlebensfähigkeit unter ursprünglichen Bedingungen stellen sie eher Rückschritte dar. In der unmittelbaren, waffenlosen körperlichen Auseinandersetzung jedenfalls ist der durchschnittliche Mensch seinem kleineren Verwandten, dem durchschnittlichen Schimpansen, mittlerweile hoffnungslos unterlegen.

Was der Mensch dem Schimpansen jedoch voraushat, ist seine weltumspannende Organisation, in der dem Schimpansen nur bescheidene Refugien in Reservaten und zoologischen Gärten zugestanden wird, während fast die gesamte Landfläche der Erde von Menschen bewohnt und bewirtschaftet wird. Diese gewaltige Karriere verdankt der Mensch seiner hervorragendsten Fähigkeit: zu lernen und Erlerntes weiterzugeben. Diese Fähigkeit ist Vorraussetzung für gemeinsames, planvolles, arbeitsteiliges (und damit effektiveres) Handeln und für technischen und kulturellen Fortschritt überhaupt; ihr kommt in der Evolution der menschlichen Art somit entscheidende Bedeutung zu. Jede menschliche Entdeckung kann durch Sprache unglaublich rasch, innerhalb eines Lebensalters (und neuerdings in wenigen Stunden) zum Allgemeingut der Art werden, was die Evolution ungemein beschleunigt. Der Einzelne wird in einen ungeheuren Wissensfundus hineingeboren, auf dem aufbauend er dann seinen bescheidenen Beitrag leisten kann. Denn im Vergleich zu dem ungeheuren Zugewinn, den die Menschheit dem vormenschlichen Wissen (über das ja die verschiedenen Tiere auch verfügen) hinzugefügt hat, nimmt sich jedes noch so epochale Lebenswerk einzelner Geistesgrößen, das auf den Erkenntnissen der Vergangenheit aufbaut, wirklich bescheiden aus.

Die Frage, ob Denken oder Sprechen zuerst da waren, ist natürlich falsch gestellt. Um die elementaren Verständigungsformen, die von ursprünglichen Lebewesen nur für einfachste Mitteilungen genutzt werden (Signalisierung von Gefahr, Angst, Wut, Paarungsbereitschaft, Zufriedenheit usw.), im Laufe der Zeit zu so komplexen Symbolisierungssystemen auszudifferenzieren, wie sie die heutigen Sprachen darstellen, bedurfte es zweifelsohne bereits einer gut ausgebildeten Kombinations- und Abstraktionsgabe. Die Möglichkeit, sich mitzuteilen, trägt ihrerseits wieder zur Weiterentwicklung der Fähigkeit bei, Wissen zu erwerben und planmäßig einzusetzen. Kurz : Denken und Sprechen bedingen sich in der menschlichen Entwicklung gegenseitig und lassen sich nicht getrennt voneinander betrachten.

Wir können davon ausgehen, daß die Wahrnehmung, also die unmittelbare Verarbeitung der Sinnesreize im Gehirn, beim Menschen nicht höher entwickelt ist als bei anderen Säugetieren. Die sprachliche Prägung dürfte hierbei keine große Rolle spielen. Die einzigartige Leistung des Sprechapparates liegt wohl vielmehr darin, daß er dem Menschen eine Fülle von "Gedächtnisstützen" in Form von Begriffen zur Verfügung stellt.

Die Speicherung von Wahrnehmungen mittels Begriffsbildung ist für das Lernen lebender Organismen zuständig. Je höher ein Lebewesen organisiert ist, desto mehr Begriffe kennt es. Einfache Lebensformen unterscheiden nur wenige Begriffe (z.B. Futter/Nichtfutter, Feind, männlicher/weiblicher Artgenosse) und können dementsprechend ihr Verhalten nur wenig differenzieren. Weiterentwickeltere Wesen differenzieren stärker (z.B. zwischen verschiedenen Sorten von mehr oder weniger genießbarem Futter, mehr oder weniger gefährlichen Feinden, verschiedenen Individuen der eigenen Art), sind somit lernfähiger und eher in der Lage, mit neuen Situationen fertigzuwerden. Beim Menschen tritt nun zu den verschiedenen, den Sinnen entsprechenden Gedächtnisebenen das sprachliche Gedächtnis, welches ungleich mehr Begriffe zu fassen und zu unterscheiden vermag als herkömmliche Speichermethoden.

Dieses ungemein effektive Verfahren kann beispielsweise an der menschlichen Fähigkeit zu zählen und zu rechnen illustriert werden. Während kleine Anzahlen ohne sprachliche Hilfsmittel erfaßt und behalten werden können, sind wir bei großen Zahlen auf das Abzählen, d.h. auf das Aufsagen der tief im Denken verwurzelten Reihe der Zahlennamen angewiesen. Der Automatismus, eine Menge sofort mit einem Zahlwort in Verbindung zu bringen, ermöglicht uns, auch große Zahlen zu speichern und mit ihnen umzugehen.

Viele Daten merken wir uns so mit Hilfe von Begriffen, die oftmals eine stabilere Speicherung gewährleisten als etwa das Bildergedächtnis. So bietet der Sprachbesitz dem Menschen einen kognitiven Vorteil selbst dann, wenn nicht gesprochen wird.

Warum sich menschliche Kommunikation hauptsächlich (nicht ausschließlich) der Stimme bedient, kann nur vermutet werden. Akustische Wahrnehmung ist gewissermaßen weniger "anspruchsvoll" als optische; Laute werden auf größere Distanz wahrgenommen als Bilder und überwinden sichtversperrende Hindernisse. Das akustische Wahrnehmungsumfeld beträgt 360 Grad; das Gesichtsfeld beim Menschen dagegen nicht einmal die Hälfte. Außerdem erfordert Lauthervorbringung relativ wenig körperlichen Aufwand, läßt die Hände frei und kann mit hinweisenden Gesten kombiniert werden.

Wahrscheinlich ist das Sprechvermögen innerhalb der menschlichen Art nicht in gleichmäßiger Geschwindigkeit entstanden, sondern hat sich in verschiedenen Sippen in unterschiedlichen Ausprägungen entwickelt. Da das evolutionäre Prinzip von Variation und Selektion nicht nur im Wettbewerb der verschiedenen Arten wirkt, sondern ebenso innerhalb der Art zwischen den verschiedenen Sippen, die als Wirtschaftsgemeinschaften untereinander um die selben Weltanteile (Ressourcen, Futterquellen, "ökologische Nischen") konkurrieren, müssen wir schon von Anbeginn der Sprachgeschichte eine natürliche Auslese der unterschiedlichen Sprechweisen vermuten, bedingt durch die gegenseitige Verdrängung (Unterwerfung und/oder Vernichtung) der einzelnen Sippen (Sprechgemeinschaften).

Die Geschichte der Menschheit ist zum großen Teil eine Chronik solcher Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Gruppen - von der Stammesfehde mit einigen Dutzend Beteiligten bis hin zum Weltkrieg mit Millionen von Opfern. Das Aussterben einer Einzelsprache war dabei zwar keine notwendige, aber häufige Folge solcher Konflikte zwischen Sprechgemeinschaften. Die Dezimierung und Auflösung einer Sprechgemeinschaft ist natürlich kein Beweis dafür, daß ihre Sprache "minderwertiger" gewesen wäre als jene Sprachen, denen sie unterlegen ist, sondern bedeutet lediglich, daß das Durchsetzungsvermögen ihrer Sprecher in der spezifischen Konfliktsituation geringer war. Dieses Durchsetzungsvermögen setzt sich aus einer Reihe verschiedener Faktoren zusammen (u.a. Waffentechnik; Kondition, körperliche Kraft und Geschicklichkeit der Einzelnen; Geländekenntnis; Organisationsgrad), von denen die besondere Ausprägung der Gruppensprache nur eine Einflußgröße des Faktors "Organisationsgrad" darstellt. Dennoch dürfen wir den Anteil der sprachlichen Fertigkeiten im Gesamtkontext des Evolutionsprozesses nicht unterschätzen. Schon in frühester Vorzeit wird die Sippe im Vorteil gewesen sein, deren Mitglieder gelernt hatten, beim Warnruf z.B. die Richtung, vielleicht auch die Beschaffenheit der drohenden Gefahr zu unterscheiden; die ihr selbst erworbenes und überlebenswichtiges Wissen umfassender ihrer Wirtschaftsgemeinde zugänglich machten; die bei der Jagd oder im Kampf mit anderen Sippen sich genauer absprechen und so besser aufeinander abgestimmt handeln konnten. Durch die Weiterentwicklung der Kommunikation wurde auch die Organisationsfähigkeit höher; die Gemeinschaften konnten also größer werden, was für die einzelnen Mitglieder zwar bessere Überlebenschancen bot, gleichzeitig aber den Wettbewerb der Individuen innerhalb der Gemeinschaft verschärfte und so den inneren Zusammenhalt verringerte, was zur Bildung von Untergruppen, Cliquenwirtschaft, Klassengesellschaften führte. Die Sprechgemeinschaften wurden (und werden) also immer größer, gleichzeitig immer unstabiler, was zur Aufsplitterung einstmals zusammenhängender Sprechgemeinschaften in verschiedene, sich relativ unabhängig voneinander entwickelnde Dialektgruppen führte.

 

2. Die Sprachfamilien

Die Tierart Mensch, ursprünglich wohl nur in Afrika beheimatet, konnte dank bestimmter Entdeckungen - wie Waffen- und Werkzeugtechnik, Erlernung von Ackerbau und Viehzucht und vor allem Beherrschung des Feuers - seine natürlichen Feinde überwinden und sich über die gesamte Erde verbreiten. In diesem Zeitraum der Ausdehnung muß wohl u.a. die Vielfalt der verschiedenen Sprachfamilien entstanden sein - ob sie nun auf eine gemeinsame Ursprache zurückgeht oder nicht. Je mehr sich der Mensch jedoch zum Beherrscher der Erde entwickelte und je dichter er sie besiedelte, desto heftiger wurde der Wettbewerb innerhalb der Art - und damit der Druck, sich zu immer größeren Wirtschafts- und Kampfgemeinschaften zusammenzuschließen. Tatsächlich nimmt in geschichtlicher Zeit die Anzahl der Sprachfamilien immer weiter ab - während große Einheitssprachen nach dem Zusammenbruch der entsprechenden politischen Gemeinschaften in unterschiedliche, aber nachweislich verwandte Einzelsprachen zerfallen. (Die Vorstellung verschiedener Sprachfamilien geht ja letztendlich nur auf die bisherige (?) Unbeweisbarkeit der prinzipiell denkbaren Urverwandtschaft aller Einzelsprachen zurück)

Die frühen Hochkulturen, von denen wir heute noch wissen, entstanden sicher nicht zufällig in der Gegend des sogenannten "fruchtbaren Halbmondes" zwischen Mesopotamien und Kleinasien, einer Region, die wegen ihrer zentralen geographischen Lage (Landbrücke von Afrika nach Europa und Asien/Amerika) und ihren günstigen Klimabedingungen (damals war die Region noch nicht durch jahrtausendelange Bebauung verwüstet) wohl am längsten und dichtesten besiedelt war und in dem also der evolutionäre Druck zur Weiterentwicklung spezifisch menschlicher Fähigkeiten am höchsten gewesen sein dürfte. In Europa und Südasien unterjochte vermutlich ungefähr zur selben Zeit ein nur durch seine teilweise rekonstruierte Sprache überhaupt faßbares Volk, die Indoeuropäer, die vorherige Bevölkerung und verdrängte im Laufe der Jahrhunderte deren Sprachen fast vollständig. Die indoeuropäische Sprachgemeinschaft (falls sie als zusammenhängende Einheit überhaupt jemals existiert hat) splitterte ihrerseits in eine Vielzahl verschiedener Sprechgemeinschaften auf, was angesichts der für damalige Verhältnisse unüberwindlichen Entfernungen und verschiedener ethnischer Vermischungen sowie unterschiedlicher sprachlicher Substrate nicht weiter verwundert.

Im weiteren Verlauf der Geschichte blieb der Mittelmeerraum Brennpunkt kultureller Entwicklung (ohne freilich damit vorläufig die asiatischen und amerikanischen Hochkulturen auszustechen; es handelt sich hierbei um räumlich getrennte Entwicklungen, die erst im Kolonialzeitalter miteinander konfrontiert wurden). Auf die Großreiche der Babylonier, Ägypter, Perser, Griechen usf. folgte schließlich das römische Riesenreich, welches einen kleinen italischen Dialekt für lange Zeit zur einflußreichsten Weltsprache machte.

Latein war lange Zeit die einzige im Abendland anerkannte Wissenschaftssprache. Der lateinische Anteil im Wortschatz der europäischen Sprachen ist dementsprechend hoch. Die vom Latein abstammenden romanischen Sprachen und das Englische - fast die Hälfte des englischen Wortschatzes ist romanischen Ursprungs - sind weltweit verbreitet. Auch andere Imperien haben in der heutigen Sprachlandschaft Europas zum Teil beträchtliche Spuren hinterlassen : Tataren (Ungarisch, Türkisch), Araber (viele arabische Lehnwörter, vor allem im Iberoromanischen und in den südosteuropäischen Sprachen), Wikinger (Einflüße z.B. im Englischen), und vor allem die Vorläufer der großen europäischen Nationalstaaten, die - bevor sie in Übersee riesige Kolonien besetzten - ihre unmittelbaren Nachbarn kolonisierten, was immer auch bedeutete, daß sie ihre eigene Regionalsprache innerhalb der Staatsgrenzen zur mehr oder weniger streng durchgesetzten Norm erklärten und so benachbarte Mundarten entweder verdrängten oder zumindest verwässerten. Dieser Prozeß der Vereinheitlichung der Dialekte ist noch in vollem Gange.

Gegenwärtige "Gewinner" des Wettbewerbs der Sprachen sind (am Anteil der Sprecher gemessen) vor allem Englisch; aber auch Spanisch, Chinesisch und Japanisch. Die Bedeutung anderer ehemaliger Weltsprachen wie z.B. Französisch, Deutsch, Russisch, Holländisch usw. nimmt dagegen ab. Als historische "Verlierer" im Widerstreit der Idiome wären alle "ausgestorbenen" Sprachen zu nennen, sowie jene Sprachen, die anscheinend im Aussterben begriffen sind, wie etwa die keltischen Dialekte, deren Sprecher bereits fast alle die überregionale Staatssprache als Zweitsprache beherrschen und zunehmend einsetzen, wodurch die Muttersprache zwangsläufig vernachlässigt und von nachwachsenden Generationen überhaupt nicht mehr erlernt wird.

 

3. Die Evolution der Einzelsprachen

Wir können aus der Geschichte einige Prinzipien ableiten, nach denen Variation und Selektion der Sprechgemeinschaften bzw. Einzelsprachen funktioniert.

Die Aufspaltung einer Sprechgemeinschaft in zwei getrennte Gruppen mit verschiedenen Einzelsprachen (Variation) erfolgt, wenn die Interaktions- und Fluktuationsrate der einzelnen Sprecher durch trennende Einflüße drastisch herabgesetzt wird. Solche populationszerschneidende Einflüße bestehen meist in räumlicher Trennung bzw. gehen mit ihr einher; denkbar sind hier neuentstandene natürliche oder politische Grenzen, aber auch freiwillige Distanznahmen (aus ideologischen, z.B. religiösen Gründen, aus Angst vor Elend oder Krankheit), die dann eine räumliche Trennung durch Migrationsbewegungen nach sich zieht. Je länger die gegenseitige Isolation andauert und je gründlicher sie ist, desto größere Unterschiede werden die sich relativ unabhängig voneinander entwickelnden Einzelsprachen aufweisen. Die gegenseitige Verständlichkeit nimmt ab, und die Wahrscheinlichkeit für ein neuerliches Verschmelzen der sich kaum noch verstehenden Populationen ebenso, da die Verständnisschwierigkeiten einer neuen interaktionshemmenden Grenze gleichkommen.

Die Situation, die sich nach dem Zusammenschluß von BRD und DDR ergeben hat, ist ein vergleichsweise schwaches Beispiel für das oben beschriebene Phänomen, denn obwohl die gegenseitige Interaktion zwischen den Bevölkerungen durch die vierzigjährige staatliche Trennung stark eingeschränkt war, haben eine Fülle von Sprechkontakten stattgefunden, schon allein durch gegenseitigen Radio- und Fernsehempfang. Dennoch lassen sich getrennte Entwicklungen vor allem auf lexophrasematischem und semantischem Gebiet feststellen, die eine Verständigung zwar niemals vereiteln, sie aber beim sorglosen "Drauflosreden" gelegentlich (wie alle dialektale, soziolektale und sonstige registerspezifische Abstände zwischen Sprechern) spürbar erschweren können.

Wie die allmähliche politische Auseinanderentwicklung einer ehemals relativ homogenen Sprechgemeinschaft nach geraumer Zeit zur echten Verständigungsbarriere werden kann, zeigt die Entstehung von Deutsch und Holländisch - aus prinzipiell gleichen Voraussetzungen und ohne auffällig unterschiedlichen Einflüßen ausgesetzt gewesen zu sein - als zwei verschiedenen Einzelsprachen. So kann der Rheinländer, dessen Dialekt sich in Richtung eines gemeindeutschen Durchschnitt entwickelt hat, seinen unmittelbaren holländischen Nachbarn, dessen Dialekt zu einem westniederdeutschen Durchschnitt hin gezogen wurde, schlechter verstehen als seine - geographisch und sprachhistorisch gesehen viel abgelegeneren - schwäbischen oder friesischen Landsleute.

Eine Sprechgemeinschaft löst sich auf, wenn es für ihre Mitglieder vorteilhaft ist, sich einer anderen Einzelsprache zu bedienen als ihrer Muttersprache (Selektion). Dies ist der Fall, wenn die Sprechgemeinschaft nicht mit der Wirtschaftsgemeinschaft und/oder der politischen Einheit zusammenfällt, sondern kleiner ist als diese, so daß es in vielen Bereichen (im Beruf, auf dem Amt usw.) erforderlich ist, die offizielle Sprache zu sprechen. Das Aussterben einer Sprache bzw. die Auflösung einer Sprechgemeinschaft erfolgt also immer unter sozialem Druck. Je höher der Druck und je geringer der Widerstand, desto schneller und gründlicher stirbt eine Sprache aus. Der Widerstand, den eine Sprechgemeinschaft der sprachlichen "Gleichschaltung" entgegensetzt, ergibt sich aus verschiedenen Faktoren : Homogenität und Größe der Sprechgemeinschaft, kulturelle Identität, Zu- bzw. Abneigung gegen "die Anderen", Grad der Verschiedenheit zwischen Muttersprache und Hochsprache. Der Druck seitens der dominierenden Sprechgemeinschaft ergibt sich aus dem Grad des Interesses, ein bestimmtes Siedlungsgebiet zu beanspruchen, und kann bis zur völligen Ausrottung der Ureinwohner gehen (So geschehen z.B. mit den meisten Indianervölkern, vor allem in Angloamerika. Meist reicht es allerdings, die Oberhäupter einer Sprechgemeinschaft zu entmachten, um die Auflösung zu erwirken.)

In solchen Fällen der Sprachüberdeckung kommt es allerdings zu einer mehr oder weniger deutlichen Einflußnahme seitens der überdeckten Mundart (Substrat) auf die überdeckende Einzelsprache. Solche substratischen Einwirkungen können alle Ebenen betreffen. Meist behalten die "übergelaufenen" Sprecher ihre phonologischen Gewohnheiten weitgehend bei und verändern so teilweise das Phoneminventar der neuen Hochsprache. Oft richten sie auch ihren Satzbau nach traditionellen Mustern aus. Besonders liebgewonnene oder fundamentale Ausdrücke der untergegangenen Sprache (vor allem Namen) werden in die neue Sprache hinübergerettet, und vielfach werden die neuen Formen ihren substratischen Ungefähr-Entsprechungen semantisch angeglichen.

Solche Veränderungen, die die Sprecher zum großen Teil unwillkürlich vornehmen, werden mit andauernder Zugehörigkeit zur größeren Sprechgemeinschaft weitgehend ausgeglichen. Ihr Anteil an der Entstehung dialektaler Unterschiede und am Wandel von Einzelsprachen ist jedoch nicht zu unterschätzen.

 

4. Evolution der Textmittel

Das evolutionäre Prinzip waltet nämlich nicht nur zwischen den verschiedenen Arten und innerhalb der Art unter verschiedenen Sippen. Auch innerhalb einer Sippe bzw. Wirtschaftsgemeinschaft stehen die einzelnen Individuen in Konkurrenz zueinander, wenn es z.B. um Beuteanteile oder Fortpflanzungsrechte geht. Analog dazu müssen wir neben der Evolution der Einzelsprachen auch die Evolution der Textmittel innerhalb einer Einzelsprache - bewirkt durch die Auslese der Textmittel innerhalb der sich weiterentwickelnden Individualsprachen - berücksichtigen.

Jedes Lebewesen handelt nach dem ökonomischen Prinzip, seine Ziele mit möglichst geringem Aufwand zu erreichen. Für das sprachliche Handeln des Menschen bedeutet das z.B.: so viel reden wie nötig, so wenig wie möglich. Alles Formulieren bewegt sich also zwischen diesen beiden widerstreitenden Maximen, und der Wandel der Textmittel ist ein irritierendes Hin und Her zwischen Verkürzungen und "Auffütterungen", die offensichtlich dann verstärkt auftreten, wenn eine Form nahezu bis zur Unverständlichkeit verkürzt ist. Jeder Sprechende sieht sich also gezwungen, die zur Erreichung seines Gesprächszieles notwendige Ausführlichkeit abzuschätzen bzw. im Gesprächsverlauf nachzureichen. Allzu große Ausführlichkeit in der Formulierung kann freilich ebenso kommunikationsstörend wirken wie zu große Knappheit, denn das Ökonomieprinzip wirkt nicht nur beim Sprecher, sondern auch beim Zuhörer, der möglicherweise "abschaltet" und nicht mehr aufmerksam zuhört.

Wie wir bereits erwähnt haben, kann auch der Übergang zu einer anderen Einzelsprache von Vorteil, also ökonomisch sein. Die teilweise unbewußte Beibehaltung vertrauter, altsprachlicher Gewohnheiten entspringt dabei einer ebenfalls ökonomisch zu nennenden Bequemlichkeit, die verhindert, daß die neue Sprechweise weitergehend erlernt wird, als es für erforderlich gehalten wird. Es kann freilich auch ökonomisch sein, einen altvertrauten Ausdruck durch eine kürzere, aussagekräftigere (d.h. dem gemeinten Inhalt näherkommende) oder einfach dem Adressaten wahrscheinlich besser verständliche Alternativform zu ersetzen. So werden vor allem in den Grenzgebieten von Sprechgemeinschaften häufig Wörter aus der Nachbarsprache (Adstrat) entlehnt, auch dann, wenn kein neuer Inhalt, kein neues Ausdrucksbedürfnis vorliegt.

Als eine Art von indirektem Adstrat können auch Fremdsprachen gelten, die für eine Sprechgemeinschaft Vorbildcharakter annehmen; sei es, weil sie die Sprechweise der herrschenden Schicht darstellen (Superstrat) und so Druck ausüben, ohne dadurch die völlige Auflösung der Sprechgemeinschaft zu bewirken, sei es, weil sie als kulturell höherstehend erachtet wird. In beiden Fällen kommt es zu zahlreichen Übernahmen, die allerdings die Syntax unberührt lassen und die Phonologie (wenn überhaupt) nur kurzfristig erweitern, später jedoch meist lautlich angeglichen werden.

Die englische Sprache weist z.B. eine starke Beeinflußung durch das jahrhundertelange normannische Superstrat auf, aber auch skandinavische Super- bzw. Adstratelemente. Das klassische Latein, für fast alle europäische Sprachen kulturelles Vorbild und Reservoir umfangreicher Entlehnungen und Übernahmen, ist seinerseits stark vom klassischen Griechisch beeinflußt. In den letzten Jahrhunderten war die französische Sprache so etwas wie ein europaweites Kulturvorbild, wovon auch viele französische Formen im Deutschen zeugen (z.B. "Portemonnaie", im 19.Jh. übernommen, neben der ältere Form "Geldbörse"). Im 20. Jahrhundert hat diese Rolle das Englische inne, aus dem weltweit viele Fremdwörter stammen (im Deutschen etwa "Bodyguard" neben der älteren Form "Leibwächter"). Hier wäre als ökonomische Motivation "internationale Verständlichkeit" denkbar.

Dem Gebot der Sprachökonomie entspringt auch die Tendenz zur Vereinheitlichung der Flexion und der Syntax innerhalb eines Sprachsystems, die allerdings mit dem Bestreben, ausführliche Formen zu verkürzen und miteinander zu verschleifen, in Konflikt gerät.

"Maximal ökonomisches Sprechen" kann es also kaum geben, da Aufwandsverminderung auf irgendeiner Ebene zwangsläufig Aufwandssteigerung auf anderer Ebene nach sich zieht. So werden beispielsweise durch stark verkürztes Formulieren vermehrte Nachfragen provoziert, die zusätzliche Formulierungen notwendig machen.

Wir können also eine Art sprachlichen Energieerhaltungssatz aufstellen, nach dem das Produkt aus Sprechaufwand und Verständnisaufwand ungefähr konstant bleibt.

Ein zweites Spannungsfeld des Artikulierens liegt in den widersprüchlichen Anforderungen, einerseits möglichst konventionell zu sprechen, um verstanden zu werden, und andererseits möglichst unkonventionell zu formulieren, um Aufmerksamkeit zu wecken. Extrem konventionelles Reden ermüdet die Zuhörer; allzu originelle und somit mehrdeutige, miß- oder unverständliche Rede überfordert sie. Beides kann dazu führen, daß der vermittelte Inhalt nicht wie gewünscht rezipiert wird.

Originalität wird vor allem durch das Verfahren der Metaphorisierung erreicht, welches (auch wegen der technischen und kulturellen Weiterentwicklung, die Benennungen für neue Gegenstände und Sachverhalte erforderlich macht) die Haupttriebkraft des semantischen Wandels ausmacht. Im Gegensatz zu den Metaphern, die in Fachsprachen aus einem neuen Bezeichnungsbedürfnis heraus geprägt werden, müssen originelle Metaphern immer wieder neu erfunden werden, da sie mit zunehmender Konventionalisierung entsprechend an Originalität verlieren (Originalität und Konventionalität stehen in umgekehrt proportionalem Verhältnis zueinander). Ein Register, in dem ein besonderes Originalitätsbedürfnis besteht und in dem daher besonders viele Ausdrücke umgemünzt werden, ist z.B. die Sprechweise der Jugend. Heranwachsende haben das natürliche (aus biologischen Notwendigkeiten erwachsende) Bedürfnis, sich gegen ihre Eltern zu behaupten, sich von ihnen unabhängig zu machen und dem Althergebrachtem etwas Eigenes entgegenzusetzen. Diese Grunddisposition, die auf Elternseite in einem gewissen Konservativismus (Festhalten an Bewährtem oder dafür Gehaltenem) ihr Gegenstück findet, äußert sich in jeder Generation (bei zunehmender Beschleunigung kulturellen Wandels um so auffälliger) durch eine neue Lebenseinstellung, die sich auch in der Art zu sprechen niederschlägt. So gesehen ist Jugendsprache nur zum Teil ein Geheimcode für altbekannte Bedeutungen; zum Teil ist sie auch eine Art Fachsprache für neue und so noch nie dagewesene Gegenstände und Sachverhalte, die also nicht ohne weiteres angemessen in "Erwachsenensprache" übersetzt werden könnten.

 

5. Universelle Tendenzen der Sprechentwicklung

Da die Welt tagtäglich mehr zum sogenannten "globalen Dorf" zusammenschrumpft und trotz aller gegenläufigen Bemühungen und Entwicklungen die inhaltliche Distanz zwischen den verschiedenen Kulturen immer mehr abnimmt und in wirtschaftliches Ungleichgewicht umschlägt, wird es auch von Tag zu Tag sinnvoller, von weltweit wirksamen Entwicklungstendenzen zu sprechen. Die vielfältige Verflechtung und Vernetzung der Weltbevölkerung in politische und wirtschaftliche Institutionen funktioniert schließlich nur durch die Rationalisierung und Intensivierung der Kommunikation. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht : wir leben im Zeitalter der Massenkommunikation. Das bedeutet: immer mehr Texte werden für immer breitere Publikumsziele produziert und von immer mehr Menschen rezipiert. Die Unterschiede zwischen den Textbiographien werden geringer, da die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft tendenziell immer mehr gemeinsame (meist hochsprachliche) Texte konsumieren. Wir erleben einen Wettbewerb der Texte, eine regelrechte Inflation; denn wenn die Anzahl der Texte in der Textbiographie steigt, nimmt der Anteil des einzelnen Textes und sein Einfluß auf die Individualsprache dementsprechend ab.

Um möglichst viele Menschen anzusprechen, muß ein Text maximal allgemein bzw. durchschnittlich sein. Um sich in der Konkurrenz gegen die Fülle der anderen Texte durchzusetzen, muß ein Text möglichst eingängig (leicht zu rezipieren) sein; das heißt : er muß kurz, originell und spektakulär sein. Um ohne großen Aufwand produziert und konsumiert werden zu können, wird er am besten nach einem stereotypen formalen Muster aufgebaut. Diese Eigenschaften von Massentexten wirken sich erheblich auf die Sprechgewohnheiten des Einzelnen aus, der permanent mit Texten konfrontiert wird, die ihm keine Möglichkeit zur Gegenrede bieten. Die Gelegenheiten zum Zuhören werden häufiger, die Gelegenheiten des Selber-Sprechens seltener, und dies bewirkt nach dem allgegenwärtigen Prinzip von Angebot und Nachfrage, daß die Menschen im Durchschnitt neuerdings viel lieber selber Sprechen als Zuhören - und Redezeit ein knappes Gut geworden ist. Das führt teilweise dazu, daß die seltener werdenden Gelegenheiten zum Sprechen ausgiebig wahrgenommen werden, also anstelle der ökonomischen Sprechqualität das Ideal der Sprechquantität verfolgt wird.

Die Stereotypen der Massentexte gehen in die Textbiographien vieler Menschen ein und bieten ein zuverlässiges Reservoir allgemeinverständlicher Textmittel, die demzufolge viel und immer mehr eingesetzt werden. Die Textbaupläne werden tendenziell einheitlicher und einfacher; die Zahl der Textbausteine und ihre semantische Dichte dagegen steigt an. Der Prozeß der semantischen Umprägung beschleunigt sich, da das Streben nach Originalität immer neue "Modewörter" hervorbringt, die sich immer schneller verbreiten und auch immer schneller wieder aus der Mode kommen.

Die großen Sprechgemeinschaften werden im Zuge vermehrter Kommunikation immer homogener und - durch die zunehmende Verdrängung kleinerer Einzelsprachen in immer mehr Lebensbereichen - auch immer umfangreicher. Da der Anteil der hochsprachlichen Texte in den Textbiographien steigt, nimmt vor allem die dialektale Gliederung immer mehr ab (weshalb sich auch stellenweise Mundartpfleger, quasi die Naturschützer der Sprachlandschaft, als Reaktion auf das Verschwinden der Dialekte zu Vereinen zusammenfinden), während die soziolektale Gliederung (im Zeitalter zunehmender beruflicher Spezialisierung und privater Individualisierung und Isolierung) zunimmt.

Als Begleiterscheinung der fortschreitenden Spezialisierung in allen Lebensbereichen, die auch immer mehr verschiedene Textsorten mit sich bringt, läßt sich ein universaler Trend beobachten, mehrere und deutlicher voneinander geschiedene Register zu entwickeln. Der "naive" Sprecher, der sich in jeder Situation so ausdrückt, "wie ihm der Schnabel gewachsen ist", also nur über ein wenig differenziertes Sprachsystem bzw. nur ein Register verfügt, ist quasi eine vom Aussterben bedrohte Art. Er wird abgelöst vom gewandten und eloquenten Redner, der eine Vielzahl verschiedener Sprecherrollen beherrscht und jeweils die Textmittel einsetzt, die ihm zur Erreichung seiner Gesprächsziele am besten geeignet erscheinen.

Die englische Sprechgemeinschaft, die durch die ungeheure Ausdehnung des ehemaligen englischen Kolonialreiches sehr umfangreich und wegen der wirtschaftlichen und militärischen Weltvormachtstellung der USA in diesem Jahrhundert recht einflußreich geworden ist, übt in der jüngsten Vergangenheit einen gewissen Druck auf alle übrigen Sprechgemeinschaften aus (auf einige mehr, auf andere weniger), dem relativ wenig Widerstand entgegengesetzt wird, so daß die Prognose naheliegt, daß sich Englisch - ein weiteres Zusammenwachsen des "globalen Dorfes" vorausgesetzt - innerhalb der nächsten Generationen zu einer weltweiten Verkehrssprache entwickeln wird, die nahezu jeder Mensch zumindest ansatzweise als Zweitsprache beherrscht, so daß zumindest theoretisch die gesamte Menschheit bald in einer einzigen, großen, vielfach untergliederten Sprechgemeinschaft aufgehen könnte.

Vom sprachgeschichtlichen Standpunkt ist diese Entwicklung durchaus folgerichtig, nicht nur, was die endgültige Verschmelzung der verschiedenen sich ausbreitenden Sprechgemeinschaften angeht, sondern in gewisser Weise auch hinsichtlich der konkreten Einzelsprache, die am Ende übrigbleibt. Die ungeheure Dominanz der indoeuropäischen Sprachfamilie, die auf allen Kontinenten stark vertreten ist und - wenn wir einen wie auch immer gearteten Zusammenhang zwischen Sprache und Mentalität annehmen - auf eine gewisse agressive Gesittung hindeutet (die sich ja seit jeher darin äußert, daß indoeuropäische Sprechgemeinschaften anderen Völkern ihre Sprache aufzwängen), ließ es für wahrscheinlich halten, daß ein Mitglied dieser Familie zur Weltsprache aufsteigen würde. Wenn wir zudem die besondere Ausprägung des Englischen bedenken - ein Konglomerat aus germanischen und romanischen Anteilen (den indoeuropäischen Sprachzweigen, deren Gemeinschaften in der technischen Entwicklung und somit im Weltmarkt seit Jahrhunderten hervorragende, wenn auch keineswegs rühmliche Rollen gespielt haben), als Kompromiß zwischen diesen beiden Sprachgrupen zudem von stark analytischem (also relativ leicht erlernbarem) Aufbau - dann scheint einiges darauf hinzuweisen, daß die englische Sprache dazu prädestiniert ist, als universelles Superstrat das Sprechen künftiger Generationen zu bestimmen.

 

6. Lehren aus der (Sprach-)Geschichte

Wer sich mit evolutionären Prozessen beschäftigt, weiß, daß die Entwicklung einer Art, einer Gruppe oder eines Individuums zwar insofern "Fortschritt" ist, als sich immer diejenigen neuen Eigenschaften und Verhaltensweisen durchsetzen, die den sich ändernden Lebensbedingungen am besten angepaßt sind; daß dieser ständige Wandel der Umstände jedoch an sich ziel- und planlos ist und somit die Redensart vom "überlebenden Stärkeren" einer Relativierung bedarf : es ist eben immer nur das im Moment Stärkere, das sich durchsetzt, ohne daraus eine Versicherung für die Zukunft oder gar ein moralisches Vorrecht ableiten zu können. Im Gegenteil : die zur Durchsetzung erforderliche Agressivität der Individuen und Gruppen kann unter veränderten Lebensbedingungen zur Bedrohung für die Art werden - wenn z.B. eine Population so ungemein erfolgreich ist, daß sie sich ihre überlebensnorwendigen Ressourcen selbst buchstäblich auffrisst. In solchen Fällen wird das natürliche agressive Potential der Lebewesen selbstzerstörerisch - zumindest solange es sich destruktiv in hemmungsloser Ausbreitung und Verdrängung der Artgenossen äußert, anstatt konstruktiv zur ehrgeizigen Weiterentwicklung eigener Fähigkeiten eingesetzt zu werden.

Wie alle organischen Lebewesen hat der Mensch einen primären biologischen Trieb : sich selbst zu erhalten. Daraus leiten sich die sekundären Interessen ab, nämlich die Wirtschaftsgemeinschaft zu schützen und zu unterstützen und die eigene genetische Ausstattung in möglichst vielfältigen und vielversprechenden Kombinationen zu vererben. Im Laufe seiner Entwicklung hat der Mensch sich ungeheure technische Mittel zur Befriedigung dieser naturhaft-egoistischen Triebe geschaffen und sie rücksichtslos gegen seinesgleichen und den Rest der Natur eingesetzt. Dabei scheint das außergewöhnliche, in der Natur einmalige Organisationstalent der menschlichen Art, das sich im Denken und Sprechen äußert, lediglich als Mittel zum Zweck weiterentwickelt worden zu sein. Seit je her dient der Fortschritt der Technik und der Wissenschaft vor allem den Interessen gegenseitiger Unterdrückung und Verdrängung, und die hehren Ideale einzelner Humanisten sind dabei eher als unbeabsichtigtes Nebenprodukt anzusehen. Und trotz unbestreitbarer "Fortschritte" im Hinblick auf die Zähmung und Erziehung der vielen Einzelnen scheint die allgemeine menschliche Einsichts- und Mitteilungsfähigkeit noch nicht so weit entwickelt zu sein, daß sie die archaischen und heutzutage ins überdimensionale potenzierten Instinkte des unbedacht handelnden Tieres überwiegen könnte; ja, es sieht vielmehr so aus, als sei diese spezifisch menschliche Fähigkeit ganz in den Dienst der allumfassenden Ichbezogenheit gestellt worden, und als sei - trotz vielfältiger Bemühungen um soziale Vernunft, trotz religiöser und philosophischer Utopien und konkreter Vorschläge - das gesellschaftliche und bewußte Wesen Mensch noch immer gefangen in den Verhaltensmustern unwissender Triebhaftigkeit. Dies ist vor allem ein Versagen der Wissenschaft; kein Scheitern vor der Materie, kein fachliches Unvermögen, sondern vielmehr ein didaktisches Versagen, denn die Vermittlung bzw. die Mitteilung des erworbenen Wissens an die Allgemeinheit ist augenscheinlich in nur ungenügendem Maße erfolgt.

Aber vielleicht lernt der Mensch auch allmählich, zwanghaften Mechanismen zu durchschauen und ihre Konsequenzen zu bedenken. Gefahren der Zivilisation (Überbevölkerung, Umweltkollaps oder atomare Selbstvernichtung) sind von Vielen erkannt und könnten durch Weiterentwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten, Denken und Sprechen, theoretisch überwunden werden - ganz im Sinne des alten Selbsterhaltungstriebes. Wenn es den Menschen irgendwann einmal gelingt, die Folgen ihres Tuns ungefähr abzuschätzen; wenn sich die Einsicht durchsetzt, daß gemeinsames, abgesprochenes Handeln immer (in der Zweierbeziehung genauso wie auf globaler Ebene) bessere Überlebenschancen und mehr Lebensqualität für jeden einzelnen verspricht als gegeneinander gerichtete Einzelkämpfe; wenn das wirtschaftliche Ausbeutungsprinzip durch ein soziales Mitteilungsprinzip ersetzt würde; kurz: wenn sich die Menschheit als eine große, zusammengehörige Wirtschafts-, Kultur- und Sprechgemeinschaft begreift und das biologische Prinzip in dieser Weiterentwicklung überwindet - so wäre dies wirklich eine Entwicklung, die auf breiter intersubjektiver Basis "Fortschritt" genannt werden dürfte.

 

2. Teil: Eine mögliche Typologie der Phänomene sprachlichen Wandels