II. Möglichkeiten der Einteilung
1. Unangemessene Ansätze (Absolutismus und "Objektivität")
"Konnten die ersten Menschen sprechen ?" - "Kann man das auf Deutsch sagen ?" - "Ist Schwyzerdütsch ein Dialekt des Deutschen oder eine eigene Sprache ?"
Solche und viele andere häufig gestellte Fragen laßen sich nicht ohne weiteres mit "ja" oder "nein" beantworten. Die Entscheidung solcher Fragen erfordert zunächst einen allgemeinen Konsens darüber, was mit bestimmten Begriffen gemeint sein soll. Es handelt sich weniger um ein Problem der Datenermittlung, vielmehr der Wortdefinition.
Es gibt viele Menschen, die solche Fragen ohne zu zögern beantworten. Sie treffen dabei allerdings (oft ohne es zu merken) keineswegs eine Aussage über die Außenwelt, sondern definieren ihren persönlichen Sprachgebrauch. Kommt es bei der Beantwortung solcher Fragen - bei ungefähr gleicher Wissensbasis der Kontrahenten - zu einer Meinungsverschiedenheit, läßt sich diese nicht durch gegenseitige Belehrung auflösen, sondern nur durch Übereinkunft in der Begriffsverwendung. In den obenstehenden Beispielen wäre es etwa zunächst erforderlich, Einigung darüber zu erzielen, was "die ersten Menschen" in Abgrenzung zu ihren unmittelbaren Vorfahren auszeichnet und ab wann lautliche Verständigung als "Sprache" bezeichnet werden kann; wer als Instanz für "(richtiges) Deutsch" anzusehen ist; bei welchem Grad der Unterschiedlichkeit zwei verwandte Einzelsprachen als "eigene Sprachen" und nicht mehr als "Dialekte" bezeichnet werden sollen und was überhaupt mit "Schwyzerdütsch" und "Deutsch" genau gemeint sein soll.
In der Realität gibt es nicht so klare Grenzen, wie wir sie bei unserem Sprechen über Welt meist unbewußt voraussetzen. Die Übergänge zwischen den Dingen in der Natur sind fließend und nur selten so abrupt, wie unser Begriffssystem es uns vorgaukelt. Unübersehbare Unterschiede zwischen zwei zeitlich (oder räumlich) weit auseinanderliegenden Entwicklungspunkten, die vielen unserer begrifflichen Unterscheidungen zugrundeliegen, schmelzen bis zu einem Nichts zusammen, wenn wir den Abstand zwischen den verglichenen Zuständen verringern.
Der Mensch z.B., wie wir ihn heute kennen, ist nicht irgendwann in der Natur "erschienen", sondern hat sich aus anderen Lebensformen allmählich entwickelt. Unsere Vorfahren haben sicherlich nicht in der Weise gesprochen, wie wir es heute tun. Je weiter wir in der Zeit zurückblicken würden (wenn wir das könnten), desto weniger menschenähnlich würden uns die Kreaturen erscheinen und um so unsprachlicher ihre Verständigung, bis wir irgendwann bei den schnatternden Lautäußerungen unserer baumbewohnenden Urahnen landeten, aus denen unser Sprechen entstanden ist.
Es ist also nicht korrekt, von "ersten Menschen" zu sprechen - denn das hieße ja, daß man (zumindest theoretisch) den einen, einzigen ersten Menschen bestimmen und benennen könnte. Wir sollten besser von mehr oder weniger menschlichen Lebewesen reden, die mehr oder weniger sprechen konnten; dies wird der tatsächlichen, allmählichen Entwicklung besser gerecht.
Genauso müssen viele andere Begriffe relativiert werden; etwa die Dichotomie "richtiges" und "falsches" Sprechen. Trivialerweise gibt es immer nur mehr oder weniger richtiges bzw. verständliches oder normgerechtes Sprechen, und der Grad der "Richtigkeit" hängt immer nur vom Zuhörer ab, der ihn subjektiv beurteilt - auch wenn er bei dieser Beurteilung bestimmte Instanzen respektiert (bei der Frage "richtiges Deutsch?" z.B. Wörterbücher oder Stilfibeln, die freilich auch nur mehr oder weniger ausführliche und repräsentative Sammlungen verschiedener subjektiver Sprechweisen darstellen). Das "objektiv verständlichste Deutsch" wäre dann die Sprechweise, die innerhalb der deutschen Sprechgemeinschaft (die ihrerseits definitionsbedürftig ist) von den meisten Individuen möglichst gut verstanden wird, gewissermaßen der Durchschnitt oder eher der größte gemeinsame Nenner aus allen Individualsprachen - und dieses fragwürdige Ideal ließe sich rein technisch nie ermitteln, sondern höchstens intuitiv abschätzen oder bestenfalls nach Stichproben hochrechnen.
Auch die Frage, ob zwei räumlich getrennte Sprechgemeinschaften, die wahrscheinlich aus einer gemeinsamen früheren Sprechgemeinschaft hervorgegangen sind, eine gemeinsame Sprache in verschiedenen Dialekten oder aber zwei verschiedene Sprachen sprechen, läßt sich im Einzelfall nur willkürlich und subjektiv entscheiden. Dabei spielen die Faktoren Geschichte, Politik, Religion und überhaupt das Selbstverständnis der Sprecher entscheidende Rollen. Generell läßt sich sagen, daß zwischen zwei Individuen nicht nur die zwei Zustände "können sich sprachlich verständigen" und "können sich nicht sprachlich verständigen" denkbar sind, sondern daß diese beiden Zustände Eckpunkte eines Kontinuums darstellen, in welchem alle Grade von mehr oder weniger Verständigung möglich sind (ein Düsseldorfer etwa kann sich mit einem anderen Düsseldorfer sicherlich besser verständigen als mit einem Schweizer, mit diesem wahrscheinlich immer noch besser als mit einem Engländer, mit diesem vielleicht widerum besser als mit einem Chinesen, usw.). Dieses Verständigungskontinuum zwischen zwei Sprechern besteht sogar zweifach, je nach dem, wer redet und wer zuhört (Holländer z.B. verstehen Deutsche oft besser als umgekehrt).
Durch unterschiedlichen und verabsolutierenden Sprachgebrauch kommt es zu Widersprüchen zwischen einzelnen Sprechern, die sich nicht durch genauere Beobachtung der Gegenstände und Sachverhalte auflösen lassen, sondern nur durch sorgfältigeres Sprechen.
Es wäre zum Beispiel denkbar, daß zwei Individuen die folgenden, scheinbar miteinander unvereinbaren Aussagen treffen : "Es ist nicht möglich, einander zu verstehen." - "Es ist möglich, einander zu verstehen." Diese Ausgangskonstellation könnte zu einem ernsthaften Konflikt eskalieren, dabei ließe sich die Meinungsverschiedenheit leicht auflösen, indem die beiden Aussagen zusammengeführt werden, etwa so : "Es ist zwar nicht möglich, einander vollkommen zu verstehen, aber es ist durchaus möglich, sich relativ gut zu verstehen, sich über sehr vieles (wenn auch nicht alles) zu verständigen." (Soll heißen: es gibt viele Fälle von hundertprozentig geglückter Kommunikation, aber es gibt zwischen zwei Sprechern mit ihren nie hundertprozentig gleichen Individualsprachen immer auch die Gefahr des Mißverstehens und Nichtverstehens.)
Eine solche Vereinbarung von scheinbar widersprüchlichen Aussagen läßt sich auf viele Scheinkonflikte anwenden; z.B.:
"Alle Menschen sind (in vielerlei Hinsicht bis zu einem gewissen Grade) gleich, aber (darüber hinaus) verschieden."
"Ein Verbrecher ist für seine Taten verantwortlich (da andere an seiner Stelle anders gehandelt hätten), aber (als das einzigartige Individuum, das er ist, und als das er so handeln mußte, wie er es tat) nicht verantwortlich."
"Die Deutschen sind (im Durchschnitt und im Vergleich zum Durchschnitt anderer Völker) besonders pedantisch, aber (viele Deutsche sind) nicht besonders pedantisch." usw.
Solche Begriffsklärungen und -relativierungen kommen im Diskurs viel weniger vor, als man annehmen sollte; anscheinend kommt vielen Sprechenden nicht oder nur selten in den Sinn, daß ihre Gesprächspartner einen anderen Sprachgebrauch pflegen könnten als sie selbst, oder daß eine Bezeichnung dem Bezeichneten nicht absolut, sondern nur bis zu einem bestimmten Grad angemessen sein könnte.
Dies ist um so verwunderlicher, wenn es denen unterläuft, die eigentlich am ehesten gegen solche Irrungen gefeit sein sollten. Auch Linguisten neigen zuweilen dazu, die verwirrende Vielfalt sprachlicher Phänomene in ihre Begriffsschemata zu pressen und zu meinen, auf diese Weise nicht nur ihren Sprachgebrauch, sondern auch "objektive" Tatsachen erklärt zu haben. Wie sonst ist es zu verstehen, wenn Wissenschaftler oft in einer Weise mit Begriffspaaren operieren wie z.B. "Standardsprache" und "Fachsprache", "Monolog" und "Dialog", "Hochsprache" und "Dialekt", als ob diese klar gegeneinander abgegrenzt wären oder sich zumindest gegeneinander abgrenzen ließen ? Freilich gibt es mehr oder weniger "hochsprachliche" bzw. "dialektale", "monologische" bzw. "dialogische", "standard-" bzw. "fachsprachliche" Texte, und wie es möglicherweise absolut "reine" Vorkommensformen gibt, so gibt es auch Grenzfälle, die jeder Mensch für sich allein gültig einer Kategorie zuordnen mag - wenn er es für nötig hält. Dabei müssen wir allerdings den Glauben an den Mythos der Objektivität aufgeben. Eine restlos unvoreingenommene Betrachtung irgendeines Gegenstandes kann ein Subjekt nun einmal nicht leisten, da es gezwungen ist, die Dinge durch seinen ganz persönlichen Wahrnehmungsapparat gehen zu lassen und in seinen konventionell-individuellen Wissensfundus einzuordnen. Wer außerdem behauptet, sich objektiv zu äußern, gibt gleich vor, zwei Unmöglichkeiten auf einmal zu leisten: eine von sich selbst losgelöste Wahrnehmung zu machen und das dazugehörige unpersönliche Ausdrucksmittel zu besitzen. Und selbst diese unerfüllbaren Voraussetzungen würden nicht zu objektiver Verständigung führen, solange das Geäußerte von den zuhörenden Subjekten in deren ganz persönlichen Art und Weise aufgefasst wird.
Für alle Kategorisierungen gilt also : sie müssen erstens als subjektive Zuordnung gesehen werden, und zweitens müssen die Elemente innerhalb der Kategorie untereinander gewichtet werden. Wer z.B. einen Text "dialektal" nennt, sollte verdeutlichen, was er warum als "dialektal" zu bezeichnen pflegt und ob der vorliegende Fall ihm mehr oder weniger "dialektal" vorkommt als andere von ihm so genannte "dialektale" Texte.
Die ständige Zweiteilung, die wir zwischen die Ganzheit der Natur und unsere Wahrnehmung von ihr schalten, hat indes Methode. Unser Trachten gilt stets den reinen Formen, den "vollkommenen" Zuständen, den einfachen, griffigen Formeln, obwohl wir doch das genaue Gegenteil überall in der Natur, auch in uns selbst, antreffen. Dieses Verfahren der binären "entweder-oder"-Entscheidungen, das die Wissenschaftsgeschichte durchzieht wie ein roter Faden und zugegebenermaßen den ungemeinen Erfolg der menschlichen Art überhaupt erst ermöglichte, hat sich gerade in letzter Zeit als nicht mehr ausreichend erwiesen.
2. Angemessene Ansätze (Relativismus und Subjektivität)
In der Tradition der aristotelischen Logik gehen wir meist davon aus, daß hinsichtlich der Beziehung zwischen einem Begriff "Y" und einem Gemeinten "X" (Gegenstand oder Sachverhalt) zwei grundsätzliche Möglichkeiten bestehen : "X ist Y" oder "X ist nicht Y". Mit dieser Sicht der Dinge werden wir dem tatsächlichen Wesen dieser Beziehung nicht gerecht. Die Verbindung zwischen Begriff und Gemeintem besteht ja nicht in der Objektwelt, sondern nur in den Köpfen der Sprecher - und zwar in individuell ausgeprägter, wenn auch konventionell eingegrenzter Weise. Und da der theoretisch unendlichen Menge von gemeinten Gegenständen und Sachverhalten ein relativ knappes Begriffsinventar gegenübersteht, gibt es nicht nur Gelegenheiten, in denen ein Begriff vollkommen oder doch fast vollkommen auf das Gemeinte passt, sondern auch Fälle, in denen notgedrungen ein nur ungefähr passender, dem Sprecher noch am ehesten angemessen erscheinender Ausdruck gewählt werden muß. Wir stellen also fest, daß die beiden Beziehungszustände, zwischen denen uns die traditionelle "harte" Logik die Wahl läßt, nur die Grenzwerte einer Bandbreite unendlich vieler verschiedener denkbarer Beziehungen zwischen Begriff und Gemeintem sind, die wir angemessener mit den Mitteln der "weichen" Logik (engl.: "fuzzy logic") darstellen, nämlich mit Werten zwischen den beiden Extremzuständen Null ("X ist nicht Y") und Eins ("X ist Y"), was dann ungefähr so aussehen würde :
0,99 "X ist fast vollständig Y"
0,9 "X ist ziemlich Y"
0,7 "X ist eher Y als nicht Y"
0,5 "X ist sowohl Y als auch nicht Y, fifty-fifty"
0,3 "X ist eher nicht Y als Y"
0,1 "X ist kaum Y"
0,01 "X ist so gut wie überhaupt nicht Y"
Dafür ein Beispiel : Wenn wir Dialogizität als aufeinander bezogenes, wechselseitiges Sprechen definieren, können wir unter anderem folgende Ungleichungen aufstellen :
- Ein geschriebener Text ist überhaupt nicht dialogisch und damit weniger dialogisch als ein durchschnittlicher Theatermonolog (bei dem ja das Publikum theoretisch die Möglichkeit zur Einflußnahme hat).
- Der durchschnittliche Theatermonolog ist weniger dialogisch als der durchschnittliche Seminarvortrag.
- Der durchschnittliche Seminarvortrag ist weniger dialogisch als die durchschnittliche mündliche Erzählung.
- Die durchschnittliche mündliche Erzählung ist weniger dialogisch als die durchschnittliche Unterhaltung.
Wir würden also ein Kontinuum erhalten, dessen Eckpunkte der "reine" Monolog (100% des Textes werden von einem Sprecher erzeugt) und der "reine" Dialog (zwei Sprecher teilen sich zu je 50% die Anteile eines Textes) darstellen:
Monolog [ - Buch - Theatermonolog - Seminarvortrag - mündl. Erzählung mit Zwischenfragen - Unterhaltung - ] Dialog
Eine dergestalt erneuerte Sicht der Dinge entspricht dem Übergang (oder sogar der Rückkehr ?) von der digitalen Widergabe, die bei aller Näherungsgenauigkeit immer kleinste Abweichungen und Rundungen enthält, zur analogen Widergabe.
Beim Sprechen benennen wir absolut, was doch in Wirklichkeit meist nicht absolut gesehen werden kann. Aus der Einheit der Natur werden bestimmte Teile herausgetrennt, indem sie auf einen Begriff gebracht werden. Nur so können wir überhaupt über irgend etwas sprechen. Dabei verschmelzen Begriff und wirkliches Ding in der Vorstellung der Sprecher meist zu einem Ganzen, als ob es eine grundlegende Eigenschaft des Benannten wäre, ein bestimmtes Etikett zu tragen bzw. einer Wortbedeutung zu entsprechen.
So gesehen sind die individualsprachlichen Systeme Typologien der Weltbestandteile. Diese Typologien sind jedoch meist sehr unsauber in ihren Abgrenzungen und voller innerer und gegenseitiger Widersprüche; denn in Wirklichkeit gibt es nur relativ wenige Begriffe, die als Absolutum vorkommen können : die Eigenschaften "tot" und "lebendig" z.B., "schwanger" und ähnliche Adjektive lassen kaum individuellen Interpretationsspielraum (obwohl es auch Redewendungen gibt wie "ein bißchen tot", "ziemlich tot" oder "kaum noch lebendig"). Bei vielen anderen Wörtern ist der Auslegungsrahmen weiter gesteckt; ob eine bestimmte Farbe als "eher blau" oder "eher grün" bezeichnet wird, hängt vom persönlichen Sprachgebrauch ab bzw. davon, wie jemand gelernt hat, die Grenze zwischen "blau" und "grün" zu ziehen - denn diese Grenze existiert in der Natur (bzw. im Farbspektrum) nicht. Was es gibt, sind natürliche Richtwerte, die innerhalb der Sprechgemeinschaft immer wieder bemüht werden und wegen ihrer hochgradigen Konventionalität für besonders gewiße Realität gehalten werden. Die allermeisten Sprecher werden sich darin einig sein, daß Gras "grün" und Himmel "blau" sind (und nicht nur so zu nennen seien). Bei der Benennung türkisfarbener Gegenstände würden die Zuordnungen schon weniger einheitlich ausfallen (wobei Sprache ja die Möglichkeit zu Abstufungen bietet, wie etwa "blaugrün"). Noch diffuser sind die Bedeutungen von Abstrakta in einer Sprechgemeinschaft umrissen; was die einen "Demokratie" nennen, heißen andere "Diktatur", des einen "Gerechtigkeit" ist des anderen "Ungerechtigkeit" usw. Gänzlich beliebig wird der Wortgebrauch bei wertenden Urteilen. Was "gut" oder "schlecht" ist, ist immer nur mehr oder weniger gut für jemand bestimmten. Um die Gefahr von Mißverständnissen zu verringern, wäre es ratsam, die entsprechenden Bezugspunkte solcher Aussagen mit zu benennen, anstatt seinen Zuhörern die Feststellung von objektiven Tatsachen vorzuspiegeln; z.B. wäre es angemessener zu sagen : "Das finde ich gut.", statt "Das ist gut.".
Besondere Vorsicht ist natürlich geboten beim Sprechen über Zukünftiges, beim Versprechen, Vorhersagen, Prognostizieren. Alles Beschreiben der Zukunft kann ja nur ein mehr oder weniger begabtes Erahnen sein, ein spekulatives Fortspinnen gegenwärtig wahrgenommener Tendenzen und ein Ausmalen, was (mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit) passieren könnte.
Um die Gefahren des Mißverstandenwerdens zu vermindern, ist es gerade im wissenschaftlichen Diskurs üblich, die Verwendungsweisen bestimmter Schlüsselbegriffe von vornherein festzulegen und zu erläutern sowie den behandelten Themenkomplex unvoreingenommen in sinnvolle Einheiten zu unterteilen. Dieses Vorgehen schafft allerdings nur dann echte Abhilfe, wenn der Typologe auf die begrenzte Gültigkeit seiner subjektiven Einteilung aufmerksam macht und Grenzfälle nicht nur berücksichtigt, sondern auch als solche gelten läßt. Ein völliges Ausschalten von Mißverständnissen kann dies freilich schon deshalb nicht garantieren, weil auch Erklärungen zwangsläufig Texte darstellen, also einem individuellen Sprachsystem entspringen und daher ambivalent verstanden werden könnten.
Ein Sprachsystem gibt die Welt nicht so wieder, wie sie ist, sondern bildet als kollektives Gedächtnis die Welt in genau der Weise ab, wie sie sich für das Individuum als Teilhaber einer Sprechgemeinschaft bisher dargestellt hat. So ist ein Sprachsystem kein bequemer Weg zu neuen Erkenntnissen, sondern eher ein verwirrendes Labyrinth voller Hindernisse. Die alten Denkmuster können nicht im Festhalten an alten Stereotypen überwunden werden, sondern nur im kreativen, den jeweiligen neuen Bedürfnissen angemessene Sprechen, welches vorgefertigte, überkommene Formen dehnt und sprengt und progressiv den Umständen anpasst.
Durch die irrige Annahme dagegen, Gesprächspartner würden sich ein und desselben Kommunikationssystems bedienen, wird Mißverstehen und Nichtverstehen geradezu provoziert. Vorurteile, Scheinwidersprüche und pseudologische Argumentationen entstehen, weil relativ-subjektive Gewißheiten als absolute, objektive Behauptungen formuliert werden.
Auf solche Weise werden individuelle Weltbilder geformt, die der tatsächlichen Welt zwar wenig entsprechen, den Lauf der Welt jedoch in bestimmter Weise beeinflußen, da sie das weitere Verhalten der Individuen bestimmen. Und schließlich gibt es nicht nur das unangemessene Sprechen aus Unachtsamkeit und Bequemlichkeit, sondern auch das bewußte Verkürzen und Verdrehen, die raffiniert zusammengestellte Mischung aus (für) Wahrheit (gehaltenem) und Lüge aus eigennützigen und gelegentlich auch aus uneigennützigen Motiven - ohne daß wir die Möglichkeit hätten, beim Zuhören eines vom anderen zu trennen.
Wir müssen also folgendes beachten, wenn wir uns mit dem Sprechen bzw. mit Texten beschäftigen :
Um einen Text möglichst gut zu verstehen, reicht es nicht aus, die Bestandteile zu kennen, aus denen er zusammengesetzt ist. Ihr Stellenwert im individualsprachlichen System, d.h. die Bedeutung der Textmittel in der Individualsprache des Textproduzenten, muß bekannt sein. Kurz : wir müssen die Subjektivität allen Sprechens berücksichtigen. Das heißt unter anderem, daß wir Texte - wenn überhaupt - nicht nach ihrer Normgerechtigkeit beurteilen, sondern nach ihrer Verständlichkeit; denn es gibt keine falschen Sätze, höchstens schwer verständliche Formulierungen.
Alle Erkenntnis ist subjektiv und daher in Relation zum erkennenden Subjekt zu formulieren und zu verstehen. Dies bedeutet unter anderem, daß wir uns um Angemessenheit in der Formulierung bemühen statt um originelle Überspitzung; und auch, daß wir einen fremden, im Zuhören erfahrenen Gedanken nicht als Gewißheit ansehen, ja nicht einmal als das, was das sprechende Gegenüber als gewiß ansieht, sondern als das, was der Sprecher bei uns Zuhörern als Gewißheit installieren will. (Das kann durchaus etwas sein, was er selbst für gewiß hält, muß es aber nicht.) Kurz: die Relativität aller Dinge muß auch und gerade beim Sprechen und Zuhören im Hinterkopf behalten werden.
Damit kommen wir zu einer angemessenen Sichtweise auch für die Typologie; sie ist nichts weiter als ein Hilfsmittel des typologisierenden Subjekts, um das Thema, das dargestellt werden soll, überhaupt besprechbar, d.h. dem Sprechen faßbar und dem Verstehen einigermaßen zugänglich zu machen. Eine "richtige" oder "falsche" Typologie gibt es nicht; wohl aber mehr oder weniger übersichtliche, sinnvolle, nachvollziehbare und vollständige Typologien.
III. Geschichte des Sprechens