1. TEIL:

 

ÜBERLEGUNGEN ZU SPRACHE,

TYPOLOGIEN UND WANDELERSCHEINUNGEN

 

 

 

I. Was die Sprachwissenschaft erforscht

 

1. Die Untersuchungseinheiten der Sprachwissenschaft

Der Forschungsgegenstand der Sprachwissenschaft ist die Sprache.

Nun ist "die Sprache" (wiewohl Substantiv) allerdings kein Gegenstand (keine Substanz), kein lebendiges Wesen und auch kein sich verzweigender Baum, sondern vielmehr eine Fähigkeit, die erst im Sprechen - und nur dort - erkennbar wird. "Sprache" kann also als Sprechvermögen umschrieben werden, das im Sprechverhalten sich äußert und beobachtbar wird. Sprechforschung ist demnach ein Teilbereich der Verhaltensforschung vom Menschen.

Wer spricht, tut dies in sinnvoll strukturierten Einheiten; er setzt Zäsuren und gestaltet eine Rede. Sie besteht aus Sätzen, die Sätze aus Wörtern in sinnvoller Anordnung, die Wörter ihrerseits bestehen aus Lauten. Die Grundeinheit des Sprechens jedoch nennen wir Text.

Ohne uns schon darüber im Klaren zu sein, wie wir die Textgrenzen definieren können (ist ein Zwiegespräch ein zusammenhängender Text, besteht er aus zwei verschiedenen, sich unterbrechenden und abwechselnd aufeinander beziehenden Texten, oder handelt es sich um einen Abtausch vieler Kurztexte ?), betrachten wir die Gesamtheit aller jemals hervorgebrachten Texte, den Textkosmos, als linguistisches Untersuchungsobjekt. Die meisten dieser Texte entziehen sich freilich der Untersuchung, da sie unwiederbringlich in der Zeit verloren sind. Zugänglich sind den Sprachforschern lediglich konservierte Texte; schriftliche Texte, Texte auf Tonträgern sowie (indirekt) Texte, an die noch lebende Menschen sich erinnern und die sie gegebenenfalls reproduzieren können, was zwar einen neuen (Kon)Text erzeugt, aber zur Rekonstruktion des Ursprungs(kon)textes dienen kann. Zusammen ergeben diese Texte den zugänglichen oder aktuellen Textkosmos. Er ändert pausenlos seine Zusammensetzung, da ständig neue Texte in ihn hinein produziert und andererseits immer wieder Texte aus ihm gelöscht werden (durch Tod, Vergesslichkeit, absichtliche Vernichtung usw.).

Die Texte im Textkosmos sind nicht absolut voneinander geschieden, sondern immer nur relativ abgeschlossen. Jeder Text knüpft an Vorgängertexte an (was sich in formalen Übereinstimmungen und/oder inhaltlichen Bezügen äußert) und kann theoretisch fortgesetzt werden. Texte enthalten einander, d.h. Texte sind Bestandteile größerer (Makro-) Texte und bestehen aus quasi-autonomen Textteilen. Textgrenzen sind nicht tatsächlich gegeben, sondern nur intuitiv setzbar bzw. konventionell vereinbar. Die theoretische Untergrenze der Einheit "Text" besteht im Phonem (Kurztexte wie "Oh!", "Ah!", "Ih!"), die Obergrenze im Textkosmos.

Obwohl wir keine abstrakte Textdefinition aufstellen können, läßt sich doch im konkreten Einzelfall - also immer dann, wenn wir ein Abgrenzungskriterium überhaupt benötigen - erstaunlich schnell Einigung über eine (oder mehrere) angemessene Abgrenzung(en) erzielen.

Eine natürliche Einheit dagegen besteht in der Textbiographie des einzelnen Sprechers. Dies ist die Summe aller Texte und Textfragmente, die einem Individuum im Laufe seines Lebens begegnet sind. Dieser Makrotext läßt sich unterteilen in die Textproduzentenbiographie (Summe aller selbst produzierten Texte) und die Textrezipientenbiographie im engeren Sinne (Summe aller rezipierten Texte abzüglich der selbst produzierten und dabei auch selbst rezipierten Texte).

Während die Texte einer Textbiographie in geordneter und endlicher Folge vorliegen, bildet der Textkosmos als Summe aller jemals von Menschen hervorgebrachten Texte (bzw. jede aus dem Textkosmos herausgegriffene und in Raum und Zeit abgegrenzte Teilmenge als Summe aller in einem Zeitraum von einer Gruppe produzierten Texte) ein unüberschaubares Gewebe vielfältig miteinander verknüpfter und nebeneinander und durcheinander verlaufender Textreihen bzw. Textbiographien.

Ein Text ist immer mehr oder weniger vom Kontext bestimmt und nicht losgelöst von diesem zu verstehen. Der Kontext läßt sich unterteilen in den gleichzeitigenen Kontext - das sind die Bedingungen im Zeit-Raum-Kontinuum (Gesprächssituation), unter denen der Text produziert wird - und den historischen Kontext als Summe aller vorhergehenden Umstände, welche die Textproduktion beeinflußen - also unmittelbar die Biographien der Textbeteiligten, mittelbar die gesamte Weltgeschichte (Gesamtkosmos).

Die Beteiligten an einem Gespräch bilden eine Textgemeinschaft. Jedes Individuum gehört im Laufe seines Lebens einer Vielzahl von Textgemeinschaften an. Die Summe der Individuen, die theoretisch Textgemeinschaften bilden könnten, da sie eine gemeinsame Einzelsprache sprechen, ist die Sprechgemeinschaft. Sie ist wegen ihrer z.T. gemeinsamen historischen Entwicklung auch Kultur- und Kontextgemeinschaft (und bringt als solche den Sprachwandel hervor). Solche Gruppen untergliedern und überschneiden sich vielfältig und lassen sich letztlich nur willkürlich voneinander abgrenzen. Ein Sprecher kann mehreren Sprechgemeinschaften in mehr oder weniger starkem Maße angehören, indem er mehrere Einzelsprachen mehr oder weniger beherrscht.

Die Einzelsprache - und zwar jede Einzelsprache - läßt sich in verschiedene Subcodes unterteilen; z.B. Jugendsprache, Sprache der sozial höheren/niedrigeren Schicht, verschiedene Fachsprachen, offizielle/familiäre Sprechweisen usw. Diese Subcodes und die dazugehörigen Subsprachgemeinschaften (Subkulturen) überschneiden sich in noch viel stärkerem Maße als Einzelsprachen und Sprechgemeinschaften und sind ebenfalls nur willkürlich gegeneinander abzugrenzen.

Neben diese vertikale Gliederung (nach soziolektalen Unterschieden) tritt noch die horizontale Gliederung nach den verschiedenen Regionen und ihren Dialekten. Auch die dialektalen Grenzen sind nur willkürlich zu setzen, die tatsächlichen Unterschiede gehen fließend ineinander über. So ließe sich ein bestimmtes "Deutsch" (von einem bestimmten Sprecher) immer weiter spezifizieren z.B. als süddeutsch, bayrisch, oberbayrisch, münchnerisch, schwabingisch usw. bis zu der spezifischen Sprechweise des konkreten Sprechers (als Bewohner bestimmter regionaler Einheiten).

Die beiden Gliederungsebenen entsprechen verschiedenen Ähnlichkeitsqualitäten. Ein bayrischer Schüler z.B. spricht sowohl Bayrisch (wie die bayrischen Alten) als auch Schülersprache (wie andere Schüler, z.B. in Hamburg). So wird er mit anderen bayrischen Schülern weniger Verständigungsprobleme haben als mit bayrischen Alten (die seine schülersprachlichen Ausdrücke nicht kennen) oder mit Schülern aus Hamburg (die seinen Dialekt nicht kennen); diese werden ihn aber immer noch besser verstehen als ein alter Hamburger, für den beide (dialektale und soziolektale) Hindernisse bestehen.

Die Biographie (Geschichte eines Individuums) enthält u.a. die Textbiographie. Die gegenwärtige Ausprägung eines Individuums ergibt sich aus seiner Vergangenheit. So bestimmt die Biographie die gesamte Persönlichkeit; die Textbiographie bestimmt demzufolge den sprachlichen Persönlichkeitsanteil.

Dieser ontogenetischen Beziehung entspricht auf phylogenetischer Ebene das Verhältnis zwischen Gesellschaftsgeschichte und gegenwärtigem Gesellschaftszustand bzw. Sprachgeschichte und momentanem Sprechverhalten.

Texte bestehen formal aus Textmitteln. Die Textbausteine (Lexikon) werden in Textbauformen (Grammatik) eingesetzt und so in bestimmte Beziehung zueinander gebracht. So ergibt sich aus verschiedenen (in den Textbausteinen enthaltenen) Einzelbedeutungen in ihrer speziellen (den Textbauformen entsprechenden) Zusammenstellung die Textbedeutung.

Bei dieser Strukturierung bedient sich der Textproduzent der formalen Mittel in der Weise, wie sie ihm aus seiner Textbiographie geläufig sind. Die individuelle Art, Texte zu strukturieren, stellt die Individualsprache (Idiolekt, Kompetenz) eines Menschen dar. Dieses individuelle Sprachsystem ist hinsichtlich seines Umfangs und vor allem bezüglich seines inneren Aufbaus, obwohl es weitgehend mit den anderen Individualsprachen der jeweiligen Sprechgemeinschaft übereinstimmt, in einzigartiger Weise ausgeprägt - und zwar sowohl hinsichtlich des Wortschatzes und der syntaktischen Muster sowie der besonderen Art der lautlichen Realisation (obwohl hier die Gemeinsamkeiten mit anderen, benachbarten Individualsprachen eindeutig überwiegen) als auch und vor allem hinsichtlich der mit den Formen assoziierten Inhalte und ihren daraus erwachsenden Kombinationsmöglichkeiten untereinander. Es gibt also kein irgendwo repräsentiertes einzelsprachliches System, sondern eine Fülle verschiedener Systeme (langues) innerhalb einer Sprechgemeinschaft, die in den einzelnen Individuen repräsentiert sind.

Die Einzelsprache stellt dabei gewissermaßen den Durchschnitt aus den Individualsprachen der Mitglieder einer Sprechgemeinschaft dar, und alle in den Individualsprachen repräsentierten Textmittel gehören - mehr oder weniger, hundertprozentig oder fast überhaupt nicht - zu einer solchen ermittelten Einzelsprache. So beeinflußt jeder produzierte Text, jeder Sprecher die Einzelsprache, indem er die Gewichtungen verschiebt oder sogar völlig neue Textmittel in Umlauf bringt.

Wie stark ein Sprecher die Einzelsprache beeinflußt, ist höchst unterschiedlich und hängt vom Ausmaß der Rezipienz ab, die er sich durch sprachliche Qualitäten und Quantitäten und vor allem durch seine außersprachliche Position verschaffen kann. So haben vielgehörte, -gelesene und -zitierte Berühmtheiten überdurchschnittlich starken Einfluß auf die Einzelsprache, aber auch Angestellte in sprachregelnden oder sprachvermarktenden Institutionen, die z.B. neue Begriffe prägen, welche sich nicht (wie "private" Neuschöpfungen) allmählich durch "Mund-zu-Mund-Propaganda" verbreiten, sondern schlagartig in Massenpublikationen unter das sprechende Volk gebracht werden.

Die Einzelsprache entspricht in dieser Definition übrigens nicht der Hochsprache. Diese, meist hervorgegangen aus einem zentralen Dialekt (zentral gelegen und/oder politisch vorherrschend), hat zwar starke kompensatorische Wirkung auf dialektale und soziolektale Unterschiede, da sich alle Sprecher mehr oder weniger oft und stark an dieser Norm orientieren; aber dennoch enthält die Hochsprache nur einen Teil der Einzelsprache, die ja (als Vereinigungsmenge aller in der Sprechgemeinschaft gesprochenen Individualsprachen) alle verwendeten Ausdrücke (allerdings in frequenzabhängiger Gewichtung) enthält. Die Hochsprache ist also gewissermaßen das angesehenste und am meisten verbreitete Register innerhalb der Einzelsprache.

 

2. Exkurs ins Chaos: Der Systemcharakter der Sprache

Die Chaosforschung hat erwiesen, daß winzige Schwankungen im Verhalten einzelner Elemente bzw. Subsysteme unvorhersehbare, chaotisch anmutende Veränderungen in einem übergeordneten System ergeben können. Von ihr wissen wir auch, daß überall in der Natur Fraktale vorkommen; dies sind im herkömmlichen geometrischen Sinne unregelmäßige Strukturen, die in ihrer konkreten Ausprägung bestimmten, veränderlichen Einflußgrößen unterworfen und wie diese unvorhersehbar und einzigartig sind, aber "von Weitem gesehen" erkennbare Muster ergeben. Z.B. folgen die Blätter eines Baumes solchen Regeln der fraktalen Geometrie; jedes Blatt ist im Detail einzigartig und unverwechselbar, aber alle folgen einem bestimmten Grundmuster (dem Attraktor des Ahornblattes).

Solche Erkenntnisse über die Komplexität aller natürlichen Systeme sind auch in den Humanwissenschaften (z.B. der Sprachwissenschaft) anwendbar. Soziologische Systeme (z.B. Sprache) und die in ihnen ablaufenden Prozesse (z.B. Sprachwandel) sind in ihrem Verhalten ebenso komplex und "chaotisch" und können durch das Wirken einer "unsichtbaren Hand" plötzlich in neue, mehr oder weniger verzwickte Strukturen umkippen wie etwa auch die Weltwetterlage (das Paradebeispiel eines unvorhersehbaren Systems). Die einzelnen Individuen in einer Gesellschaft sind ebenso "fraktal", vielfältig und verschiedenartig "gewachsen" wie die Blätter eines Baumes; und wie wir ein (jedes !) Ahornblatt mit bloßem Auge identifizieren und deutlich von einem (jedem !) Birkenblatt unterscheiden können, so ähneln sich auch bei aller Verschiedenheit die Individualsprachen innerhalb einer Sprechgemeinschaft.

Was uns als Chaos erscheint, kann dabei durchaus streng determiniert sein; es entzieht sich jedoch unseren arg begrenzten Möglichkeiten der Erfassung. So können wir auf der Basis von notwendigerweise unvollständigen und ungenauen Daten und mit einem begrenzten Fundus erkannter Naturgesetze das zukünftige Verhalten bestimmter Teilsysteme des Gesamtsystem "Kosmos" niemals genau vorhersagen; wir können aber vergangene, beobachtete Phänomene nachträglich bis zu einem gewissen Grad beschreiben und damit erklären.

Die besondere Ausprägung eines Ahornblattes etwa, die uns völlig zufällig erscheint, ergibt sich notwendig aus dem Zusammenspiel unzähliger Faktoren, die wir theoretisch ermitteln und zur Erklärung der entstandenen Form heranziehen könnten; z.B. die genetische Programmierung als Blatt eines bestimmten Ahornbaumes; die klimatischen Bedingungen, das Bodenmilieu des Baumes; die Stelle am Baum, an der das Blatt wächst, die Wachstumsdichte, die Himmelsrichtung; schließlich "zufällige" Begebenheiten wie Käferfraß oder Witterungsschäden; usw. Der Nachvollzug der Entwicklung zum gegenwärtigen Zustand ist mühselig und immer nur ungefähr zu verwirklichen; aber er ist näherungsweise möglich. Nicht möglich sind dagegen sichere Prognosen darüber, wie ein gerade keimendes Blatt in einem Jahr aussehen wird - denn dies hieße, den Wandel der Einflußgrößen und damit den gesamten Verlauf des Universums vorhersehen zu können, der das Fraktal determiniert.

Unser Gehirn ist in seinem neuronalen Aufbau ebenfalls ein solches Fraktal, und die vielfältigen, individuellen Assoziationsketten, die jeder Mensch in sich trägt und die er gelegentlich in sich abruft, in die er gelegentlich auch unversehens stürzt, sind nichts anderes als die fraktale Repräsentation der unzähligen "zufällig" oder vielmehr unvorhersehbar sich wandelnden Wahrnehmungen und Empfindungen, die in jedem Augenblick auf uns einwirken und im Gehirn gespeichert werden, die so unser Erleben ausmachen und in deren Wandel unsere Geschichte, unsere ganz persönliche Vergangenheit besteht. Unser ständiges Gegenwartsempfinden, das sich aus unzähligen verschiedenen einzelnen Sinneseindrücken zusammensetzt, wirkt auf unser pausenloses Wachstum, die Weiterentwicklung und Erneuerung unseres Organismus ein; vor allem auf dessen zentrales Organ, das alle Körperfunktionen lenkt und das Bewußtsein erzeugt. Das Gehirn erneuert sich nicht durch Zellaustausch. Die Gehirnzellen leben so lange wie der Körper, in dem sie sich befinden, und bevor dieses riesige Speicherreservoir wirklich ausgefüllt wäre, wird es durch den Niedergang des gesamten Organismus oder Schäden in der eigenen Substanz gelöscht. Solange aber, bis zu unserem (Hirn-)Tod, lernt und entwickelt sich dieses Organ weiter, schafft sich neue Betätigungsmöglichkeiten und nimmt Gewohnheiten an; ausgetretene Denkpfade sozusagen in unseren sich ständig weiterverzweigenden Gehirnwindungen, in denen auf rätselhafte Weise unsere immer umfangreicher werdende Vergangenheit gespeichert, das Gedächtnis daran umorganisiert und unser Verhalten - bewußt oder unbewußt - dieser neuen Datenbasis angepaßt wird, so daß wir zu jedem Zeitpunkt so handeln (also auch sprechen und verstehen), wie wir es in der Vergangenheit gelernt haben, oder vielmehr: wie wir es aus der Vergangenheit gelernt haben.

Die Verschiedenheit der individuellen (und dabei zum Teil konventionellen) Weltbilder entspringt kleinsten Unterschieden in der Weltwahrnehmung, die schon durch die individuelle Wahrnehmungsperspektive (Position des Individuums im Raum), aber auch durch genetisch bedingte, geringfügige Variationen in den Wahrnehmungsorganen entstehen. Die so zustandegekommenen Weltbilder bedingen jeweils die weitere individuelle Wahrnehmung und zeigen also eine gewisse Tendenz zur Selbstverstärkung; was weniger ins Weltbild passt, wird weniger zur Kenntnis genommen. So potenzieren sich laufend winzige Anfangsdifferenzen im Laufe der Zeit zu deutlichen Abweichungen.

Bei der Beschäftigung mit komplexen Systemen, über einen längeren Zeitraum und mit mehreren Bestandteilen, potenzieren sich die Schwierigkeiten, die schon bei der Untersuchung kleinster natürlicher Subsysteme (z.B. einzelner Zellen) gegeben sind. Hier ist der Analytiker darauf angewiesen, in einer "Fernsicht" die Grundstrukturen darzustellen, quasi die Hüllkurven, innerhalb derer das Chaos oszilliert. Dieses Vorgehen muß jedoch als das verstanden werden, was es ist : ein Notbehelf; Bemühung um das Machbare und Kapitulation vor dem Unmöglichen. Nur wer die vielfältige Verflechtung aller Elemente im Kosmos begreift, entgeht der Versuchung, seine vereinfachten Modelle komplexer Vorgänge für allgemeingültige Wahrheiten zu halten. Mit dieser Einschränkung ist es beispielsweise möglich, vergleichbare Tendenzen in den Individualsprachen verschiedener Mitglieder einer Sprechgemeinschaft zu einem einzelsprachlichen Wandel zusammenzufassen und darzustellen, der als offenes Teilsystem der Gesamtheit "Kosmos" bestimmten Eigengesetzlichkeiten unterliegt, vor allem aber an die Entwicklung des Gesamtsystems gekoppelt ist und folglich immer "Ungesetzlichkeiten" (vom Teilsystem aus gesehen) aufweisen kann, die in Wirklichkeit aus verborgenen, übergeordneten Regeln erwachsen.

 

3. Die Sprache des Individuums (Ontogenese)

Der Mensch hat im Laufe seiner Artentwicklung sein Denk- und Sprechvermögen hoch entwickelt. Seine heutige Ausnahmestellung in der Natur verdankt sich hauptsächlich diesen beiden Fähigkeiten, welche sich wohl kaum getrennt voneinander hätten entwickeln können und somit als eine komplexe Spezialisierung betrachtet werden müssen. Die prinzipielle Fähigkeit, durch bloßes Wahrnehmen von Texten und Kontexten allmählich ein kompliziertes Sprachsystem zu erwerben, ist jedem Menschen angeboren - während es schon den menschennächsten Verwandten im Tierreich selbst bei geduldigster Unterweisung nicht gelingt, ein nennenswertes Sprech- oder Verständnisvermögen auszubilden. Es gibt also offenbar eine exklusiv menschliche Anlage, Sprache zu erwerben bzw. aus gehörten Texten ein System zu abstrahieren, nach welchem dann selbst Texte produziert werden können. Das konkrete Sprachsystem, das ein Individuum dabei tatsächlich erwirbt, ist zwingenderweise den Systemen seiner Sprechgemeinschaft (genauer : seiner Gesprächspartner) nachgebildet.

Die Individualsprache als das System, nach dem ein Mensch Texte produziert, stellt gewissermaßen eine Quintessenz seiner aktuellen Textbiographie (der erinnerte Anteil der Textbiographie) dar; es speist sich ausschließlich aus früheren Texten und dient ebenso ausschließlich dem Verstehen und Abfassen zukünftiger Texte.

Es kann (von den höchst seltenen Fällen der Lexemerfindung einmal abgesehen) grundsätzlich nur solche Formen (Textbausteine und Textbaupläne) enthalten, die dem Individuum bereits in rezipierten Texten begegnet sind; und davon nur eine Auswahl; so werden zum Beispiel die Sprechgewohnheiten von Vorbildfiguren nachgeahmt, die von geringgeschätzten Personen dagegen eher vermieden.

Die Textbaupläne (Satzmuster und grammatischen Gepflogenheiten) stellen immer wiederkehrende Anordnungsprinzipien dar, die dem Individuum aus gehörten Texten wohl bekannt sind und die es bei der Erstellung eigener Texte bewußt oder unbewußt übernimmt, da es keine alternativen Vorbilder der Wortreihung zur Verfügung hat.

Bis ein Textbaustein (ein Wort bzw. eine Redewendung) in die Individualsprache gelangt, bedarf es einiger vorbereitender Schritte. Unabdinglich ist, daß das Wort bereits in Texten gehört und bewußt registriert wurde. Oft holt das Individuum auch einen erklärenden Einführungstext ein, bis es dazu übergeht, die neue Form selbst zu gebrauchen; es kann aber auch durch bloße Abstraktion aus den verschiedenen Ko-Texten zu einer mehr oder weniger fest umrissenen Bedeutungsvorstellung gelangen und die fragliche Form in diesem Sinne einsetzen, wobei die Gesprächspartner unter Umständen (bei auffallend "falscher" bzw. als "falsch" empfundener Verwendungsweise) korrigierend einwirken, d.h. einen expliziten Einführungstext nachreichen. Die mit den Formen assoziierten Inhalte entsprechen also den subjektiven Wahrnehmungen, die der Sprecher (in seiner Rolle als Zuhörer) mit den jeweiligen Formen zu verbinden gelernt hat, und sind in ihrer Eigenschaft als Übernahmen konventionell begrenzt, aber in ihrer Zusammenstellung individuell ausgeprägt - je nach den persönlichen Lebensdaten des Individuums, also u.a. Wohnort (Landschaftstyp, Klima, Besiedlungsdichte usw.), sozialer Status, Familiengröße und -verhältnisse usf., aber auch seinen vielfältigen alltäglichen Erlebnissen; jedes noch so unbedeutende (sprachliche) Ereignis hat Teil an der (sprachlichen) Persönlichkeitsbildung, die sich zwar mit zunehmendem Lebensalter verlangsamt, aber grundsätzlich das ganze Leben lang nicht abgeschlossen ist. Denn wenn auch die ersten Erlebnisse im Leben eines Menschen (der zu diesem Zeitpunkt noch fast keine Vergangenheit hat, an der er sein weiteres Verhalten orientieren könnte) ungemein prägender sind als spätere Erlebnisse, so entwickelt sich der Mensch doch sein ganzes Leben lang weiter, lernt Neues hinzu und vergißt Überholtes; und seine Art zu sprechen verändert sich dabei ebenfalls.

Was wir gemeinhin "Muttersprache" nennen, ist zwar meist in starkem Maße, aber nie ausschließlich von der Mutter vermittelt. In den ersten (drei bis fünf ?) Lebensjahren werden - anhand der ersten "gelernten" Wörter und Satzmuster - das Phoneminventar und die Ordnungsprinzipien, also die Grundlagen einer Einzelsprache (oder ggf. mehrerer Einzelsprachen) erworben. Die Aussprache (Realisationsweise der Phoneme als Allophone), Bestand und Ausprägung der Lexeme sowie deren semantische Befrachtung wird gleichfalls von den Sprechweisen der Umgebung übernommen. Neigen die Sprechvorbilder eines Sprechenlernenden z.B. mehrheitlich dazu, die regional gefärbte Variante einer Hochsprache zu artikulieren, wird das Individuum ebenfalls Dialekt zu sprechen beginnen; ist es dagegen mehr hochsprachlichen Texten ausgesetzt (z.B. auch aus Massenmedien wie Radio und Fernsehen), wird seine Individualsprache eher der überregionalen Sprachnorm ähneln.

Mit begrenzten, endlichen Mitteln kann ein Sprecher theoretisch eine unendliche Anzahl von Texten bilden - die von den Angehörigen seiner Sprechgemeinschaft mehr oder weniger verstanden werden, und zwar in dem Maße, in dem sich die Sprachsysteme von Sprecher und Zuhörer (bzw. Schreiber und Leser) gleichen bzw. voneinander unterscheiden.

Wenn ein Individuum einen Text produzieren will, trifft es aus der Fülle der Textmittel, die es bisher aufgenommen bzw. rezipiert hat, nach Maßgabe der konkreten Gesprächssituation eine Auswahl. Diese Auswahl erfolgt unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Angemessenheit hinsichtlich des Gesprächszieles des Textproduzenten. Sollte es sein Ziel sein, möglichst gut verstanden zu werden, wird er diejenigen Textmittel einsetzen, die in der jeweiligen Textgemeinschaft und insbesondere von seinem derzeitigen Gesprächspartner bisher häufig verwendet bzw. verstanden wurden. Will er dagegen seine Zuhörer beeindrucken (ebenfalls ein häufiges Gesprächsziel), wird er zumindest teilweise Textmittel verwenden, die ihm nicht von seinen momentanen Gesprächspartnern her bekannt sind, sondern anderen, subjektiv "höher" eingestuften Textgemeinschaften entstammen.

Wir können feststellen, daß das Individuum viele sprachprägende Erlebnisse mit anderen Sprechern teilt. Dies sind vor allem gemeinsame Erlebnisse mit Gesprächspartnern, aber auch vergleichbare Erlebnisse (kulturelle Stereotypen) innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften, denen das Individuum angehört (hat), wie z.B. Schulbildung, typische Situationen, die aktuellen Neuigkeiten usw.

Die Einschätzung der jeweiligen Textgemeinschaft erfolgt nicht unbedingt anhand gemeinsamer Erlebnisse. Wenn der Textproduzent seine Gesprächspartner nicht oder kaum kennt, wird er sich bei der Auswahl der angemessenen Textmittel von seiner intuitiven Einschätzung leiten lassen; er wird die ihm unbekannten Personen bestimmten Typen zuordnen und seine Redeweise daraufhin abstellen. Diese Einschätzung, die z.B. durch das äußere Erscheinungsbild, die kontextuell vorgegebene Rollenverteilung (z.B. bei offiziellen Gesprächsanläßen bzw. Schriftwechseln) oder etwaiges, von Dritten vermitteltes Vorwissen bestimmt wird, kann im Laufe des Gesprächs gegebenenfalls revidiert und die Sprechweise dem neuen Einschätzungsstand angepasst werden.

Je mehr Textgemeinschaften ein Individuum angehört hat und je mehr sich die in den verschiedenen Gemeinschaften produzierten Texte in Aufbau und Inhalt voneinander unterscheiden, desto mehr Register wird das Individuum ausbilden. Die verschiedenen Register stellen relativ abgeschlossene Subsysteme der Individualsprachen dar, die sich in Aussprache, Wortschatz und Grammatik mehr oder weniger deutlich voneinander und vom individualsprachlichen Durchschnitt unterscheiden. Am deutlichsten voneinander getrennt sind etwa mutter- und fremdsprachliche(s) Register, wo es kaum Überschneidungen gibt; weniger deutlich hochsprachliches und dialektale(s) Register (Unterschiede in Wortschatz, Semantik, Aussprache und eventuell auch Syntax), viel weniger laien- und fachsprachliche(s) Register (Wortschatz und Semantik), familiäres (altersunabhängiges) und kollegiales (altersspezifisches) Register (Wortschatz und Semantik, eventuell auch Syntax) usw.

Wie die individuelle Persönlichkeitsentwicklung, so ist auch die Entwicklung der Individualsprache nicht vor dem Tode abgeschlossen, verlangsamt sich aber mit zunehmendem Alter. Welchen Textgemeinschaften ein Mensch wie oft und wie lange angehört, wie stark er die anderen Angehörigen der Gemeinschaft beeinflußt und seinerseits von ihnen beeinflußt wird, hängt von vielfältigen Faktoren ab, die immer textuell und kontextuell sind. Welche Register ein Individuum dabei ausbildet und in welcher Ausprägung, ist einerseits von seinem Sozialisationsgrad abhängig und bedingt ihn andererseits; denn nur das Sprechen als grundlegende soziale Fertigkeit ermöglicht uns, eine Vielzahl von Verhaltensmustern und Wertmaßstäben (das, was wir Kultur nennen) zu erwerben. Die Sprechweise eines Menschen in bestimmten Gesprächskreisen kann also nicht losgelöst von seinem sonstigen, nonverbalen Verhalten und seinem Stellenwert im jeweiligen Personenkreis verstanden werden, und die die verschiedenen Register eines Individuums sind nur die sprachlichen Komponenten der verschiedenen, teilweise stark voneinander abweichenden Aspekte seiner Persönlichkeit.

Wenn wir uns die Mitglieder einer Sprechgemeinschaft, die miteinander die vielfältigsten, "chaotischsten" Beziehungen unterhalten, als Punkte auf einer zweidimensionalen Fläche vorstellen, können wir die gegenseitige Beeinflußung der Individualsprachen und die Verbreitung neuer Textmittel in den Redegewohnheiten der Gemeinschaft nachvollziehen. Wir gehen davon aus, daß jedes Individuum (jeder Punkt) mit seinen Nachbarn (den angrenzenden Punkten) in sprachlichen Kontakt tritt. Dabei gibt es freilich individuelle Unterschiede; so werden z.B. Anzahl und Intensität der Kontakte variieren. Was die vereinfachte Darstellung jedoch gut verdeutlicht, ist folgendes: jeder Sprecher zieht um sich einen Kreis von (häufigen, gelegentlichen und einmaligen) Gesprächspartnern, die seine Individualsprache beeinflußen und auf deren Individualsprachen er seinerseits Einfluß nimmt. So ist die gesamte Sprechgemeinschaft vielfach kreuz und quer miteinander verbunden, und obwohl kein Sprecher auch nur annähernd mit der Gesamtheit aller anderen Mitglieder der Gemeinschaft gesprochen hat, stehen alle Individuen - über mehr oder weniger vermittelnde Personen - in indirektem Kontakt miteinander.

Die Verflechtung der Sprechgemeinschaft ist nicht überall gleich dicht. Es gibt dicht besiedelte Gegenden mit überdurchschnittlich vielen (dafür, nach dem Energieerhaltungssatz, tendenziell weniger intensiven bzw. "oberflächlicheren") Sprechkontakten; es gibt allerortens relativ isoliert lebende Individuen, deren Sprech- und sonstigen Gewohnheiten sich überdurchschnittlich stark von den Gebräuchen ihrer unmittelbaren Umgebung abheben; es gibt schließlich viele Subkulturen mit jeweils eigenem Register. Die meisten Individuen gehören mehreren solcher Gruppen in unterschiedlicher Verbundenheit an und übernehmen dementsprechend mehr oder weniger stark die gruppenspezifischen Sprechweisen: die regionale Mundart, den Fachjargon in Schule oder Beruf, Spezialausdrücke und Konversationsrituale verschiedener Vereine, die geflügelten Worte aus Freundes- und Bekanntenkreis und nicht zuletzt die beeindruckendsten Phrasen aus Literatur, Presse, Radio- und Fernsehsendungen, Kinofilmen und Werbetexten.

Das individualsprachliche System dient nicht nur der Kodierung eigener Texte, sondern ist freilich auch bei der Entschlüsselung rezipierter Texte maßgeblich beteiligt. Wir können als Faustregel annehmen, daß die Bestandteile aus der Textbiographie, die das Individuum am besten kennt bzw. zu kennen meint, das Sprachsystem bilden bzw. zur Textproduktion eingesetzt werden. Aber natürlich gibt es keine klare Grenze zwischen aktivem und rein passivem Wortschatz; jedes Wort, das ein Mensch zum wiederholten Male hört (manchmal sogar beim ersten Hören), weckt mehr oder weniger deutliche bzw. diffuse inhaltliche Assoziationen, und jedes Wort, das dem Sprechenden in den Sinn kommt, kann theoretisch auch ausgesprochen werden. Bloß : dem Sprechenden kommt eben nicht jedes Wort in den Sinn, sondern nur ganz bestimmte Wörter; solche, die er vielleicht besonders häufig oder auch gerade kürzlich zum ersten Mal gehört hat und die ihn besonders beeindruckt haben.

Aus der Textbiographie läßt sich dieser vom Individuum erinnerte Anteil hervorheben : die aktuelle Textbiographie, in der die unterschiedlich aktuellen Bestandteile verschiedene Stellenwerte einnehmen. Der Stellenwert eines Textes in einer Textbiographie errechnet sich aus seiner Bedeutung für das rezipierende Individuum (Informationsgehalt, Abweichung von Standardstrukturen, Prestige des Sprechers, kontextuelle Rezeptionsbedingungen usw). Er bestimmt, wieviel Einfluß ein Text bzw. die Textmittel, aus denen er besteht, auf die Individualsprache und auf die weitere Textproduzentenlaufbahn hat. Die aktuelle Textbiographie formt das Sprachsystem und bestimmt das Sprechen des Individuums zum jeweiligen Zeitpunkt. Die aktuelle Gesamtbiographie (= Summe aller vom Individuum erinnerten Erlebnisse) bestimmt entsprechend sein gesamtes sprachliches und nichtsprachliches Verhalten.

 

4. Grenzen und Möglichkeiten der (Sprach-)Wissenschaft

Wenn wir als Axiom voraussetzen, daß alles Sprechen in Texten erfolgt, jede sinnvolle Gesprächseinheit - wie sie auch im einzelnen abgegrenzt sein mag - einen Text darstellt, so können wir daraus schließen, daß alle Sprachwissenschaft letztlich eine Sprech- bzw. Textwissenschaft ist, die sich auf folgenden Betrachtungsebenen betätigt :

 

1. die Ebene der konkreten Situationsanalyse.

Beobachtungsobjekt : Text und unmittelbarer Kontext.

Beobachtungszeitraum : mindestens einige Sekunden; theoretisch keine Obergrenze.

 

2. die psychologische Ebene des Textproduzenten als sprechendes und handelndes Wesen.

Beobachtungsobjekt : aktuelle Text- und Kontextbiographie.

Beobachtungszeitraum : bisheriges Lebensalter des Individuums.

 

3. die soziologisch-historische Ebene (oder, anders ausgedrückt, die massenpsychologische Ebene) der verschiedenen, miteinander verflochtenen Gesellschaften als Sprech- und Handlungsgemeinschaften (Beobachtungsobjekt : aktueller Text- und Kontextkosmos) bzw. einzelner Teilaspekte (z.B. einzelne Sprechgemeinschaften und ihre Einzelsprachen, einzelne Subkulturen und ihre Register usw.); einschließlich der gesamten Welt- und Menschheitsgeschichte als Vorgeschichte menschlichen Sprechens und Handelns überhaupt.

Spekulationsobjekt : Text- und Kontextkosmos.

Spekulationszeitraum unbegrenzt.

 

Jeder Mensch (Wissenschaftler eingeschlossen) kann über das Sprechen nur soviel wissen und aussagen, wie sich aus den Texten, die ihm zugänglich sind und waren, herausfinden läßt. Der Text ist jedoch nicht nur die grundlegende Einheit allen Sprechens und damit das einzige dem Sprachwissenschaftler zugängliche Untersuchungsobjekt; er ist obendrein das Medium, die Form, die das Ergebnis der Untersuchung transportiert. Der Sprachwissenschaftler ist nicht nur gezwungen, seine Forschungen anhand von Texten zu betreiben und die Darlegung seiner Erkenntnisse mit (gefundenen oder erfundenen) Beispieltexten (und seien es nur Textfragmente, Sätze, einzelne Wörter) zu illustrieren - er muß seine Mitteilung auch als Text abfassen. Dabei ist er unweigerlich den Beschränkungen und Verführungen seines individuellen Sprachsystems ausgesetzt. Letzteres gilt allerdings für alles Forschen und Lehren überhaupt.

Die Grundlage der hochentwickelten menschlichen Erkenntnis-fähigkeit liegt in der Möglichkeit, sich mitzuteilen, eigene Wahrnehmungen und Schlußfolgerungen den Artgenossen zugänglich zu machen und sich im Gegenzug Erkenntnisse der Artgenossen anzueignen. Wir können unser menschliches Wissen also unterteilen in erfahrenes und (sprachlich) erworbenes Wissen. Dabei macht das in eigenen Erfahrungen gewonnene Wissen nur einen kleinen Teil des individuellen Weltbildes aus. Der überwiegende Teil dessen, was wir für gewiß halten, haben wir von anderen übernommen, wir haben es mitgeteilt bekommen, und das heißt: dieses Wissen ist nicht individuell, sondern interindividuell bzw. konventionell, aber es ist subjektiv verstanden und in ein subjektives Weltbild eingeordnet worden.

Wir kommen hier zu einem grundsätzlichen Problem; es betrifft die prinzipielle Unmöglichkeit, im strengen Wortsinn etwas zu wissen, wenn wir darunter verstehen: die objektive Wahrheit zu kennen. Jede Erkenntnis über die Welt ist subjektiv, da es immer ein Subjekt ist, welches erkennt, und jede Aussage über die Welt ist eine subjektive Aussage (nicht Reproduktion, sondern Abbildung, mithin Interpretation der Wirklichkeit), die außerdem noch subjektiv verstanden wird; sie befindet sich somit im Spannungsfeld zweier individualsprachlicher Weltbilder, die beide auf unterschiedliche Art die Welt verzerrt widergeben. Übereinstimmung in subjektiven Aussagen ist kein Beweis für die Wahrheit einer Aussage (im absoluten Sinne), sondern höchstens ein Indiz. Wir Subjekte können nicht wirklich (objektiv) wissen, sondern immer nur glauben - so, wie wir unseren (gelegentlich trügerischen) Sinneswahrnehmungen und unseren (oftmals unglaubwürdigen) Mitmenschen glauben.

Dem unerreichbaren Ideal der Objektivität kann sich allerdings beliebig weit annähern, wer auf der Grundlage von logischen Gesetzmäßigkeiten (vorsichtiger ausgedrückt: auf der Grundlage von Beobachtungen, die durch ihre Gemeinsamkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Gesetz schließen lassen) Theorien entwickelt, die ein hohes Maß an Zu- und Übereinstimmung in der Gemeinschaft (Intersubjektivität) erzielen. Voraussetzung dafür ist freilich eine realistische Bescheidenheit, nämlich der Verzicht auf die (angeborene) Selbstgefälligkeit, sich selbst als oberste Instanz und Mittelpunkt der Welt zu erachten. Zwar ist es dem Individuum möglich, Phänomene, die es nicht betreffen, einigermaßen leidenschaftslos und unvoreingenommen, quasi "objektiv" zu beurteilen. Die Grundlage dieser Urteilskraft, das persönliche Wertesystem, entzieht sich aber der unbeteiligten Selbstbeurteilung von außen. Obwohl wir also ständig mit uns selber zu tun haben, können wir unser eigenes Wesen nicht schauen. Aber auch wenn wir es nicht wirklich begreifen können, müssen wir doch vernünftigerweise davon ausgehen, daß unser Selbst - unsere Gefühle, Wahrnehmungen, Meinungen, unsere gesamte Identität - ebenso ein Produkt bestimmter physikalischer Umstände ist wie alles andere, was um uns herum existiert, und daß wir bei aller Einzigartigkeit keineswegs unvergleichlich sind, sondern den selben Regeln unterliegen, die für alles Werden, Entstehen und Vergehen in der belebten und unbelebten Natur gelten. Dies bedeutet nicht, auf seinen eigenen Willen zu verzichten, aber es schützt davor, sich Unfehlbarkeit anzumaßen.

Dabei kommt dem Sprechen hervorragende Bedeutung zu. Übereinstimmung im Glauben an vermittelte Weltwahrnehmung setzt Übereinstimmung im Gebrauch des wahrnehmungsvermittelnden Medium voraus. Völlige Übereinstimmung der verschiedenen individualsprachlichen Systeme ist freilich genauso unerreichbar wie völlige Einsicht in die objektive Welt. Aber auch hier läßt sich durch entsprechende Bemühungen eine Annäherung an das Ideal bewerkstelligen, lassen sich in der Analyse der verschiedenen individuellen Arten des Sprechens, ihrer Gemeinsamkeiten, ihrer Besonderheiten, ihrer Bedingungen und ihrer Auswirkungen die kommunikativen Fähigkeiten des Einzelnen so weiterentwickeln, daß er sich verständlicher ausdrücken und andere besser verstehen kann. Genau hierin sollte auch der Zweck von Sprachwissenschaft bestehen, nicht im Selbstzweck der Erkenntnis um der Erkenntnis willen, der nur zu oft im Sinne einer falschverstandenen Wissenschaftlichkeit Modellbildungen hervorbringt und erschöpfend ausspinnt, die mit der Wirklichkeit wenig bis nichts zu tun haben.

II. Möglichkeiten der Einteilung